Vom Nebel verschlungen

7. September 1972. Jens klettert über die Steinmauer hinter dem Haus seiner Großeltern und läuft auf einem von Wacholderbüschen bedeckten Feld in Richtung der dichten, milchig weißen Nebelschwaden, die an diesem Tag vom Sund herauf wehen.
Wir, die Hörer, ahnen sofort: Sie sind "The Fog – Die Nebel des Grauens". Und tatsächlich bleibt der 5-Jährige nach seinem Ausflug spurlos verschwunden. 20 Jahre später taucht ein Schuh des Jungen auf. Per Post ging er an den inzwischen schwer rheumatischen Großvater, der in einem Altersheim auf Öland lebt. Sofort ruft er seine Tochter an:

"Weißt du noch, welche Schuhe er damals an hatte?"
"Braune Ledersandalen mit schwarzen Gummisohlen, das eine Riemchen rechts an den Zehen war lose, die anderen hatte ich schon festgenäht."
"Mit weißem Garn?"
"Ja?"
"Vor mir liegt genau so eine kleine rechte Sandale."
"Was sagst du da? Ich komme."
"Gut. Danke."

Der großartige Traugott Buhre in der Rolle von Großvater Gerlof Davidsson. Dies war die letzte Rolle des berühmten Bühnenschauspielers, der 2009 starb. Überzeugend und völlig unaffektiert gibt er hier einen wachen Greis, der zwar kaum noch gehen kann, aber über die Kombinationsgabe eines genialen Detektivs verfügt.

"Wir rollen den Fall neu auf!"
"Was ist denn in dich gefahren?"

Seine Tochter Jülia, die Mutter des verschwundenen Jens, ist skeptisch. Einerseits fürchtet sie sich vor weiteren enttäuschten Hoffnungen, andererseits ist da das neue Beweisstück, die Sandale ihres verschwundenen Sohnes. Astrid Meyerfeldt verkörpert die schwer getroffene Frau.

"Wir haben uns so lange nicht gesehen."
"Und was sehen wir? Einen gebrechlichen Mann und eine verhärmte Tochter, 47, depressiv, alkoholabhängig, meist arbeitsunfähig, isoliert mit unlöschbarer Trauer und verzweifelter Sehnsucht."

Andrea Czesienski hat aus Johan Theorins Krimi Öland, einem 440-Seiten-Wälzer, das Wesentliche für eine Stunde Hörspiel herausgeholt. Ein Hörspiel aus Dialogen, das auch ohne die verbindende Stimme eines Erzählers funktioniert. Der preisgekrönte Hörspielregisseur Götz Naleppa inszeniert die Stimmen der Schauspieler fein ausbalanciert und verleiht der Geschichte Sogwirkung durch unheimliche Geräusche sowie durch realistische Atmosphären, die der Hörer vielleicht gar nicht bewusst wahrnimmt. Aber erst durch sie wird die Illusion, einem geheimnisvollen Geschehen beizuwohnen, perfekt.

Hinweise auf den Absender der Kinder-Sandale gibt der Post-Umschlag, denn darauf prangt das Signet der örtlichen Werft. Gerlof erinnert sich: War der Reeder Martin Malm nicht in den 70ern auf unerklärliche Weise zu Reichtum gekommen? Zusammen mit dem schmierigen Immobilienkaufmann Gunnar? Und war das nicht die Zeit, als Gerüchte in Umlauf kamen, der ruchlose Mörder Niels Kant wäre gar nicht tot aus seinem lateinamerikanischen "Exil" heimgekehrt, sondern quicklebendig? Großvater Gerlof ist sich sicher, dass das alles mit dem Verschwinden seines Enkels in Zusammenhang steht. Und so startet er seine Ermittlungen auf dem Friedhof mit einer Befragung des noch amtierenden Totengräbers. Aber der tut Gerlofs Theorien ab:

"Nee, Gerlof. Das ist doch alles Plünnkram aus der Schattenstunde."
Erst einmal scheint es so. Öland ist ein Hörspiel, das Stilelemente der Schauer- und Horrorgeschichte mit denen des Detektivromans zusammenführt.

"Wird Gerlof auf seine alten Tage Privatdetektiv? Kant lebt nicht mehr, und wer so etwas erzählt, sollte sehr aufpassen","

sagt der örtliche Polizist in einem verdächtig einschüchternden Ton. Er scheint einer Meinung zu sein mit Immoblien-Gunnar:

""Nils Kant. Genau das meine ich mit den Gerüchten. Nils war wunderbar tot. Keine Sau hat sich für ihn interessiert. Und plötzlich wispert es aus allen Ecken."

Nicht zuletzt, weil jemand die Postkarten fand, die Nils Kant seiner Mutter aus Übersee schickte:

"Liebste Mutter, so oft wünsche ich, dass mein Leben anders gelaufen wäre und ich in Öland friedlicher bei Dir leben könnte. Keine Sehnsucht ist stärker. Stattdessen stehe ich an den stinkenden Häfen auf der anderen Seite des Ozeans und warte auf Fracht aus der Heimat."

Die öländischen Nebel, die den 5-jährigen Jens verschlungen haben, erobern für eine Stunde auch das Gehirn des Hörers, bis sie sich am Ende auf völlig überraschende Weise lüften.

"Und jetzt? Was wird denn jetzt?"

Besprochen von Brigitte Neumann

Johan Theorin: Öland
Krimihörspiel mit Traugott Buhre in der Hauptrolle
Hörspielbearbeitung: Andrea Czesienski
Regie: Götz Naleppa
Buchvorlage: Piper
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009
Der Hörverlag
1 CD, ca 1 Std., 12,95 Euro