Vom Meister zum Bachelor?

Von Holger Lengfeld |
Jüngst haben CDU/CSU und FDP im Koalitionsvertrag angekündigt, die Zahl der Studierenden im Land zu erhöhen. Dies ist auch bitter nötig, denn zukünftig müssen die Deutschen mehr Technologien und Patente entwickeln, wenn das Land seinen Wohlstand halten will.
Dazu aber müssen mehr Berufstätige mit und besonders solche ohne Abitur an die Hochschulen geführt werden. Denn Studieren ohne Abitur erhöht das Leistungspotenzial der Wirtschaft, weil es die praktischen Erfahrungen von Berufstätigen mit der Methodik des wissenschaftlichen Forschens verbindet. Außerdem wird es mehr Chancengleichheit bringen. Denn damit gelangen Menschen zu Bachelor und Master, denen der Weg zum Abitur aufgrund ihrer sozialen Herkunft in jüngeren Jahren häufig verbaut war.

Wie die Vorgängerregierung hat die neue Koalition die Vorteile des Studiums ohne Abitur offenbar erkannt. Dennoch wird es hierzulande weiterhin eine Rarität bleiben, wenn sich nichts Durchgreifendes verändert. Denn nur ein Prozent aller Studierenden lernt heute ohne klassische Zugangsberechtigung an einer deutschen Hochschule. Damit liegen wir im europäischen Vergleich etwa auf dem Niveau von Litauen oder Bulgarien. Was sind die Gründe dafür?

Das erste Problem beschert uns der deutsche Föderalismus. Wer studieren darf, regelt jedes Bundesland für sich. 16 verschiedene Ländergesetze plus zahlreiche Verordnungen auf Hochschulebene sind für Studierwillige ein kaum durchschaubarer Regelungsdschungel.

Hier gibt es eine Eignungsprüfung, dort ein Probestudium und woanders eine Begabtenprüfung. Hat eine Berufstätige dennoch die Zulassung an einer bestimmten Universität erlangt, so ist sie in vielen Fällen an genau diese Uni beziehungsweise an das betreffende Bundesland gebunden. Denn viele Bundesländer akzeptieren keine Zugangsberechtigungen, die woanders erworben wurden. Damit wird die viel beschworene Mobilität für Studierende ausgerechnet für jene ohne Abitur unmöglich.

Ein weiteres Hindernis ist der Wegfall des Einkommens während des Studiums. Es ist ja kaum zu erwarten, dass zum Beispiel eine 30-jährige Angestellte mit Kind oder ein 40-jähriger Alleinverdiener den Job kündigen oder sich für mehrere Jahre freistellen lassen.

Dagegen könnte ein Fernstudium oder ein Teilzeitstudium neben dem Beruf durchaus eine sinnvolle Alternative sein. Aber die damit verbundenen immensen zeitlichen Belastungen werden nicht alle Berufstätigen stemmen können. Auch die von der schwarz-gelben Koalition geplante Ausweitung des Bafögs und des sogenannten Aufstiegsstipendiums werden wenig bewirken. Denn die Höhe dieser Unterstützungen bemisst sich an den Konsumgewohnheiten von jungen, alleinstehenden Studierenden. Wer will es da den vergleichsweise älteren Berufstätigen verdenken, wenn sie ihr Einkommen nicht gegen ein Stipendium von höchstens 650 Euro eintauschen wollen?

Und nicht zuletzt empfangen nur wenige Hochschulen die neuen Studierenden mit offenen Armen. Für mich durchaus verständlich: Ermüdet von zahlreichen Hochschulrankings, Exzellenz-Initiativen und der Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen wollen viele Professoren sich nicht auf das nächste Wagnis einlassen. Denn Studieren ohne Abitur muss anders aussehen, wenn man die fehlenden Vorkenntnisse der Studierenden ausgleichen und deren berufliche Kompetenzen weiterführen möchte. Alle Studierenden, mit und ohne Abitur, gleich zu unterrichten, das wird nicht gehen.

Und dennoch: Will das Land seinen Wohlstand beibehalten, dann führt am Ausbau des Studiums ohne Abitur kein Weg vorbei. Dazu müssen sich die Hochschulen für Berufstätige ernsthaft öffnen wollen und attraktive Teilzeitstudiengänge entwickeln. Die Bundesländer müssen einheitliche Zulassungsbedingungen und Anerkennungsregelungen schaffen, und Bund sowie Wirtschaft müssen die finanzielle Förderung von Studierenden und Hochschulen ausbauen. Fraglich ist, ob es dazu kommen wird. Denn der Weg dahin wird für alle lang, steinig und teuer.


Holger Lengfeld, Dr. phil., Jahrgang 1970, ist Professor für Soziologie und Inhaber der "Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnosen" an der Fern-Universität in Hagen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Wandel und den Ursachen von sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa.
Holger Lengfeld
Holger Lengfeld© FernUniversität Hagen