Vom Leben, Sterben und von der Liebe

Die Schriftstellerin Olga Martynova ist in Sibirien geboren, in Leningrad aufgewachsen - seit 1991 lebt sie in Deutschland. Für ein Kapitel aus ihrem zweiten Roman erhielt sie 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Jetzt ist er in Gänze erschienen.
Eine mögliche Leseanleitung findet sich auf Seite 283, kurz bevor Olga Martynovas zweiter Roman "Mörikes Schlüsselbein" endet. Aber was soll bei einem Buch mit so vielen Ein- und Ausgängen schon das Ende sein? "Alles wird berechnet", notiert der imaginäre Dichter Fjodor Stern, "Filme, Bilder, alles verpackt und dem Publikum, dessen Vorlieben erforscht werden, angeboten.

Ein von allen Seite manipulierter Mensch liest, schaut, hört die Produktion, die genauso gut von Robotern erstellt sein könnte." Die Konsequenz kann da nur sein: "Ein guter Roman muss eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend." Wie ein genialer Schachspieler müsse sein Autor "mit scheinbarem Unsinn der Kombinationen irritieren", um maschinellen Gegnern "eine Vorstellung von der unbegreifbaren Welt" zu geben.

Die auf Deutsch schreibende Russin Olga Martynova, die mit einem Kapitel aus "Mörikes Schlüsselbein" 2012 den Bachmann-Wettbewerb gewann, scheint sich genau daran gehalten zu haben. Zwischen Wien und Berlin, Frankfurt und St. Petersburg, zwischen New York und der kasachischen Steppe während des Zweiten Weltkriegs, verknüpft sie die disparatesten Stränge. Man begegnet einem Schamanen und John Perlman, einem Slawisten mit US-Geheimdienstvergangenheit, einer russischen Ballerina und einer deutschen Eisverkäuferin.

Vor allem aber trifft man neben Fjodor das deutsch-russische Paar Andreas und Marina wieder, das schon in Martynovas Debütroman "Sogar Papageien überleben uns" auftrat. Andreas ist mittlerweile Literaturprofessor, Marina arbeitet bei einem europäischen Kulturfonds. Nach 20 getrennten Jahren verlieben sie sich erneut ineinander. Andreas hat in der Zwischenzeit eine Tochter und einen Sohn groß gezogen. Dieser Moritz spielt eine besondere Rolle, denn er literarisiert nach dem Tod des Vaters dessen Geschichte.

Olga Martynova, Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2012
Olga Martynova, Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2012© picture alliance / dpa /APA /Gerd Eggenberger
Fantastische Offenheit
Vom Stoff her ist "Mörikes Schlüsselbein" ein Familienroman, der vom Leben und Sterben und von der Liebe handelt - und von der Auferstehung der Toten in der Erinnerung anderer Menschen. Zugleich feiert er ein Fest intra- und intertextueller Bezüge. Sie nehmen die thematischen Verwicklungen auf, insofern es um das Fortleben von Büchern in anderen Büchern geht.

Der letzte Absatz der "Papageien", ein Zitat des Futuristen Alexander Wwedenskij, taucht hier als Motto wieder auf, und Nikolaj Leskows offenbar erfundener Roman "Die Insulanten" wird aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven verarbeitet. Auch sonst scheut die Autorin keinen Aufwand. Die Druckerschwärze verblasst mitunter zum Gedankengrau, andere Passagen werden eingerückt oder präsentieren sich in Schreibmaschinentypo.

Es gibt Aufzählungslisten und Kapitel, in denen sämtliche Adjektive eingeklammert sind. Alles ist Text, ruft einem Olga Martynova zu, die Wirklichkeit beginnt woanders. Deshalb führt auch der Titel dieses Buches in die Irre. Das Schlüsselbein ist der Knochen, den einem die Autorin zuwirft, um den plotsüchtigen Leser zu besänftigen. Wenn man sich daran trotzdem nicht die Zähne ausbeißt, liegt es daran, dass die fantastische Offenheit dieses Buches bei aller artistischen Konstruktion einen verblüffend leichten und charmanten Ton besitzt.

Besprochen von Gregor Dozauer

Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein
Droschl Verlag, Graz 2013
320 Seiten, 22,00 Euro


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