Vom Korbstuhl zum begehbaren Uterus

Von Siegfried Forster |
Das Grand Palais Paris zeigt in einer großen Schau die Geschichte des Designs der letzten zwei Jahrhunderte. Dabei geht es nicht chronologisch zu, sondern in Konfrontation mit Bildender Kunst, Kino und Literatur wird gezeigt, welchen Einfluss Design auf die Künste und das Alltagsleben genommen hat.
Hinsetzen oder stehen bleiben? Praktischer Besucher-Stuhl oder sündhaft teures Designer-Möbel? Vom ersten Schritt an bewegen wir uns in einer kreativen Unsicherheit zwischen den Welten des Alltags, der Kunst und des Designs.

Los geht es mit einer Jahrhunderte übergreifenden Schlichtheit: ein weiß lackiertes Holz-Buffet aus dem Jahr 1919 von Gerrit Thomas Rietveld, ein umwerfend schlichtes Holz-Regal mit Kleeblatt-Fuß aus dem Wien von 1810 und der galant geometrisch geformte Ti-La-Sessel aus dem Jahr 1923 von Marcel Breuer. Genial einfach verbundene Bretter, die die Welt bedeuten, bemerkt Kurator Jean-Louis Gaillemin:

„Im Grunde, wenn man Bretter hat und ganz einfache Holzplanken, dann kann man schon beginnen, eine Bibliothek zu erbauen, einen Tisch, also diese anonymen Werke, die man früher sah in den Herbergen im 19. Jahrhundert oder in den Spitälern, in Gefängnissen, das war das ganz einfache Design – für die armen Leute. Und ich wollte zeigen: man geht immer zurück zum Orthogonalen, also zu dieser ganz einfachen Fassung, sogar zu Josef Hoffmann, zu dieser Bibliothek... und auch zum berühmten Godwin-Sideboard, der seinen Namen einem Kriminalroman gegeben hat. Das sind – wie man heute sagt – Ikonen. Schon vom Anfang des 19. Jahrhunderts.“

Design wird hier auf den Punkt gebracht und auf ein Podium gestellt – doch das ist für alle Objekte gleich: 30 Zentimeter hoch. Der richtige Abstand, um Design für die Zeit einer Ausstellung dem Alltag zu entreißen und für uns auf Augenhöhe zu hieven. Zwei Jahrhunderte Kreation umfasst die Schau, die resolut Design in den Mittelpunkt künstlerischer Auseinandersetzung stellt. Design als Auslöser, Bindeglied, Orientierung und Vorbild für verschiedenste Kunstbereiche. Gleichzeitig lautet der Titel „Design contre design“. Design: Eine Geschichte der Konfrontation?

„Nein, das ist keine Geschichte der Konfrontation. Ich wollte im Grunde die Besucher mit sich selbst konfrontieren. Es gibt heute so viele Erläuterungen über Design und so viele Meinungen, dass Design praktisch fast nichts mehr bedeutet. Das bedeutet schön, schön gezeichnet und Schluss. Das heißt: es gibt heutzutage so viele verschiedene Zweige der Schöpfung, dass man diese Ideen von ‚Design or not Design‘ wieder neu stellen soll.“

Vollständigkeit wird nicht angestrebt, eine chronologische Abhandlung wird verpönt. So steht die stufenförmige Bibliotheks-Treppe aus Eiche von Josef Hoffmann für Karl Wittgenstein (1905) nicht für eine Epoche, sondern für das Konzept der Geradlinigkeit und Rechtwinkligkeit. Der legendäre lederbespannte MR 10 Stahlstuhl von Ludwig Mies van der Rohe oder der „Corallo“-Wirr-Warr-Geflecht-Sessel aus orangefarbenem Draht von Fernando und Humberto Campana aus dem Jahr 2004 repräsentieren hingegen die Ästhetik der Bogen-Linie:

„Die Kurve ist feminin, die Gerade ist maskulin. Ich habe damit gespielt. Zum Beispiel man sieht ganz deutlich, in Wien beginnt Josef Hoffmann mit linearen Kurven, und dann nach einem Jahr ‚Art Nouveau‘, beginnt er mit der Einfachheit. Es sind Phasen. Es sind Momente, wo die Kurve entsteht und sich manifestiert – zum Beispiel in Art Nouveau – und es gibt Momente des Rückzugs, wo man mehr das Gerade und das Einfache vorlebt.“

Shiro Kuramata illustriert mit seiner „Hommage an Mondrian“, einem Schrank aus bunten Rechtecken, den Einsatz der Geometrie als Versuch der Gleichschaltung. Zaha Hadid erinnert mit ihrer monumentalen biomorphen „Eisberg-Bank“ daran, dass auch beim Design stets nur einige wenige Spitzen der Absichten und Funktionen sichtbar sind. Wenn Joris Laarmann einen Heizkörper in Form einer verschlängelten Weinpflanze entwirft und Jeroen Verhoeven mit dem Computer eine nicht greifbare Rokoko-Kurve mit rätselhaftem Volumen konzipiert und das „Cinderella-Tisch“ tauft, spätestens dann steht fest, dass Design die längst verloren geglaubten Stile wieder auferstehen lässt:

„Es gibt natürlich noch Stile und sogar sehr freche Stile. Philippe Starck in Frankreich oder Robert Stadler oder Joris Laarmann und auch Verhoeven in Holland spielen mit den Stilen – zum Beispiel durch den Computer und heutzutage fühlt man sich sehr befreit und das hat begonnen in den 80er Jahren.“

Design als Ort, an dem Utopien und Träume ausgelebt werden können, die anderswo längst erstickt und gescheitert sind. Die Ausstellung wirft die streitbare These in den Raum, dass das Kräfte-Verhältnis zwischen Kunst und Design Ende des 20. Jahrhunderts umgekippt sei. Design diene mittlerweile der Kunst als Vorbild:

„Das ist klar: heutzutage viele Künstler interessieren sich an den Typen des Designs, also der täglichen Umgebung, arbeiten damit. Mit Sesseln, mit Stühlen, Eisschrank und es gibt eine Ebene... und Sie haben recht, das Verhältnis ist vielleicht in der Zeit von einem Wechsel, von einer Umkehrung... Viele Künstler arbeiten mit Typen des alltäglichen Lebens.“

Der „W.W. Stool“ von Philippe Starck setzte auf unbequemes Sitzen auf pfefferminzgrünem Stahlrohr, Bertrand Lavier verführt uns mit gigantischen Lippen aus Porzellan. Nicht von ungefähr dominiert bereits im vorletzten Raum die „polymorphe Katze“ aus Messing von François-Xavier Lalanne den Raum. Die gigantische Minibar ist so groß wie ein Auto, so pompös wie ein Märchenschloss. Und Joep van Lieshout erfüllt den surrealistischen Traum Dalis von der Rückkehr in die Gebärmutter und präsentiert „the Womb House“ – einen roten bewohnbaren Riesen-Uterus mit eingebauter Dusche, Kühlschrank und Toilettenschüssel. Design-Objekte als Knackpunkt der Kreation.