Vom Joggen in den Gerichtssaal

Von Kerstin Zilm · 15.07.2013
In Los Angeles leben mehr als 20.000 Obdachlose. Die meisten sind bitter arm und gezeichnet von der Drogen- und Alkoholsucht. Trotzdem finden manche die Kraft und schließen sich einem ehrgeizigen Programm an: Sie joggen zusammen mit einem Richter.
Morgendämmerung in Downtown Los Angeles. Eine Gruppe von etwa zehn Männern in Trainingshosen, T-Shirts und Laufschuhen steht quatschend neben dem Empfangsschalter der Midnight Mission. Vor dem Obdachlosenzentrum fällt erstes Tageslicht auf verwahrloste Gestalten. Sie kauern auf dem Boden, lehnen an Mauern zwischen vollgestopften abgewetzten Taschen oder hängen vornüber gebeugt in Rollstühlen.

Die Männer in Sportausrüstung unterscheiden sich gewaltig von ihrer Umgebung, aber der Eindruck täuscht. Sie sind ebenfalls obdachlos und wohnen in einer Behelfsunterkunft in der Mission. Seit Oktober laufen sie dreimal in der Woche morgens zehn Kilometer durch die Innenstadt von Los Angeles, angeführt von einem Richter des Sozialgerichts: Craig Mitchell. Das gemeinsame Laufen macht die Obdachlosen stärker, sagt der Gesprächigste unter ihnen: Ryan Navales, 43 Jahre alt, weiße Baseballkappe über dickem schwarzen Haar:

"Du kommst in Form, Du musst pünktlich sein und zuverlässig. Die Gruppe verlässt sich auf dich. Das macht viel aus! Als Drogenabhängiger und Alkoholiker bin ich normalerweise nicht immer sehr zuverlässig."
Neben ihm nickt ein anderer Läufer. Ben ist fast zwei Meter groß, athletisch, 48 Jahre alt mit blauen Stern-Tätowierungen auf Stirn und Nacken. Alkohol hat seine Musikerkarriere und sein Privatleben zerstört. Vor fünf Monaten ist er zur Gruppe gestoßen, hat 30 Kilo abgenommen und das erste Semester einer Musikschule absolviert.

"Ich stehe jetzt jeden Morgen um fünf auf um zu laufen. Deshalb bin ich der Erste in der Schule und der Letzte, der den Pianoraum verlässt. Wenn du am frühen Morgen 10 Kilometer läufst - was kann für den Rest des Tages schwierig sein?"

Die Gruppe gibt Halt, die Männer unterstützen sich gegenseitig. Aber die zentrale Figur ist der Richter, der nicht nur beim Laufen ein offenes Ohr für alle hat. "Er nimmt sich Zeit," erzählt Ryan, egal ob es um Probleme mit dem Gericht oder mit der Familie geht.

"Mit ihm zu rennen gibt uns Zugang zu einem Richter, den man normalerweise nicht hat, zu all seinem Wissen und seiner Erfahrung. Wir sind viele, viele Meilen nebeneinander gelaufen. Wenn ich seinen Rat brauche gehe ich in den Gerichtssaal, hat er eine Pause, winkt er mich in seine Kammer und wir reden."

Richter Craig Mitchell strahlt Würde aus - kurze Hosen, graue Schläfen, gebräuntes Gesicht und kerzengerade Haltung. Für ihn ist das Laufen mit den obdachlosen Männern aus der Midnight Mission kein Akt der Wohltätigkeit, sondern persönliche Bereicherung:

"Das sind wertvolle, anständige, begabte Menschen. Ich genieße es, Zeit mit ihnen zu verbringen und ich bin was das angeht wählerisch. Ich bin nicht bekannt dafür, dass ich im Pausenraum mit Kollegen schwatze. In vielerlei Hinsicht verbringe ich lieber Zeit mit den Männern der Mission."

Ryan nickt bedeutungsschwanger. Für den Familienvater, der Job, Frau und Haus durch seine Drogenabhängigkeit verloren hat, ist es noch immer unfassbar, dass dieser Mann sein Freund ist:

"He's my friend. It's real awesome!"

Punkt sechs Uhr geht es los. Der Richter wartet nicht. Die Gruppe bahnt sich einen Weg vorbei an den kauernden Gestalten zur Straße. Die Männer fallen in schnellen Trab - vorbei an immer mehr Obdachlosen, die entlang der Strecke auf dem Bürgersteig unter Decken und improvisierten Zelten liegen.

Eine knappe Stunde später trudelt einer nach dem anderen wieder in der Mission ein - verschwitzt, schnaufend und mit zufriedenem Gesicht. Gaby Hayes aus Jena und ihr amerikanischer Mann Marc sind zur Gruppe gestoßen. Sie fahren aus den Hügeln Hollywoods zum Lauf mit den Obdachlosen. Zuerst war es nur, um Unterstützung zu zeigen. Inzwischen wollen sie den Austausch nicht mehr missen

Gaby: "Das erste Mal war es schwierig, wenn man hier runter kommt und so viele Obdachlose sieht. Los Angeles auf der einen Seite mit Beverly Hills so reich, und dann kommt man hierher und kann es gar nicht glauben, was es so an Armut gibt."

Marc: "Und ich denke immer, das könnte ich sein. Du kannst arbeitslos sein und als nächstes nicht Geld haben fürs Haus und du bist auch auf der Straße. Das könnte mein Bruder sein. Und ich habe zwei Kilo abgenommen. Das ist ein Bonus."

Richter Mitchell läuft normalerweise gleich weiter, einen zusätzlichen Kilometer zum Gericht. Dort duscht er, tauscht Laufausrüstung gegen schwarze Robe und bereitet sich auf einen Tag vor, an dem mit großer Wahrscheinlichkeit auch Drogenabhängige und Obdachlose vor ihm auf der Anklagebank sitzen werden. Es könnten Männer dabei sein, mit denen er im Morgengrauen durch Hochhausschluchten von Los Angeles lief:

"Mir fallen sehr schnell Namen ein von Menschen, mit denen ich gerne gerannt bin und die rückfällig geworden sind - nach mehreren Monaten und dem Beginn von Freundschaften tauchten sie nicht mehr auf. Die anderen sagen mir: Richter, sie nehmen wieder Drogen."

Die Läufer sitzen inzwischen beim Frühstück im kleinen Saal der Mission. Sie sind sich ihrer Schwächen sehr bewusst. Die meisten haben mehrfache Rückfälle hinter sich. Das Laufen gibt ihnen Selbstbewusstsein. Mit jedem vollendeten Lauf wächst der Glaube, ihre Ziele zu erreichen. Ryan zieht ein Foto aus der Tasche seiner Laufshorts: ein Mädchen mit dicken braunen Zöpfen und fröhlich glitzernden Augen. Seine Tochter.

"Mein oberstes Ziel ist, ein trockener Vater zu sein. Meine Tochter bedeutet mir alles. Immer für sie da zu sein ist das Wichtigste für mich und ich will ein Vorbild für sie sein und durchhalten."