Vom Hochmut

Von Wolfgang Sofsky · 13.08.2006
Von dem römischen Kaiser Konstantin ist überliefert, er habe es in der Öffentlichkeit stets vermieden, jemanden direkt anzublicken. Er hielt den Kopf nach vorn, ohne ihn jemals hier- oder dorthin zu wenden, und sei es nur, um die grüßenden Untertanen eines Blickes zu würdigen. Sein Körper blieb unbeweglich und folgte nicht einmal den schwingenden Bewegungen der Kutsche. Ungerührt bewegte sich der Herrscher durch die Menge. Sein Hochmut verbot ihm jeden Blickwechsel.
In Demokratien meiden Machthaber solch unpopuläre Haltungen. Leibwächter müssen die Zuschauer auf Abstand halten, denn das Volk drängt zur Macht, und Politiker sind auf der Suche nach ihrem Volk. Leutseligkeit und Führungskraft sollen die freundlichen Autoritäten ausstrahlen, nicht Pomp, Kälte und Verachtung. Die Zuschauer wollen einen Blick erhaschen, einen Händedruck, eine Unterschrift. Allenfalls Königen oder altgedienten Präsidenten gesteht man reservierte Überheblichkeit zu. Aus dem Katalog der unchristlichen Laster hat die Republik auch die Verdammung des Hochmuts übernommen.

Einst war Hoffart das schlimmste aller Laster. Diese Todsünde verstieß gegen die Rangordnung der Welt. Die Rache der Götter war fürchterlich. Prometheus wurde für seine Vermessenheit an den kaukasischen Felsen gefesselt, Satan in die Hölle gestürzt und Adam aus dem Paradies vertrieben. Unnachsichtig bestraften die Götter alle Untertanen, die sich selbst erhöhten und den heiligen Thron für sich beanspruchten. In der Finsternis wurde den Hochmütigen das Rückgrat gebrochen, oder sie mussten schwere Felsen schleppen, von deren Last sie so niedergedrückt wurden, dass sie nur noch auf den Boden starren konnten. Wer auf andere herab- oder hinweggesehen hatte, durfte nie mehr aufrecht stehen und Gott schauen.

Unter modernen Bürgern verletzt Arroganz keine heilige Rangordnung, sondern die Ideologie weltlicher Gleichheit. Der Hochmütige erhebt sich über alle anderen. Seit die Menschen den Zustand der Demut verlassen und sich selbst an die Stelle der Götter gesetzt haben, blicken sie aufeinander herab und treten einander mit Füßen. Satan, dem Rebellen gegen Gott, wäre es nie und nimmer in den Sinn gekommen, seinen Schöpfergott zu verachten. Er wollte nur lieber in der Hölle herrschen als im Himmel dienen. Der Mensch in seiner Eigenliebe indes will die gesamte Welt regieren. Keiner soll so sein wie er. Die Hybris ist dem Gattungswesen eigentümlich.

Hochmut ist keinesfalls mit Stolz oder Eitelkeit zu verwechseln. Der Stolze begnügt sich mit Selbstachtung, er ist sich seiner Leistungen, seines Werts bewusst. Weder ist er von sich ergriffen noch giert er nach Applaus. Seine Genugtuung bedarf keines sozialen Lärms. Der Stolze schweigt und geht. Der Eitle wiederum nährt sich vom Beifall der anderen. Immerzu will er beachtet, gelobt, geliebt werden. Ihm fehlt die Selbstsicherheit des Stolzes, aber auch die Niedertracht des Hochmuts. Er hungert nach Geltung, macht allerlei Aufhebens von sich, und wenn gerade niemand greifbar ist, verliebt er sich in das Ebenbild, das er im Spiegel erkennt.

Der Hochmütige dagegen will sich nicht nur von Ohrenbläsern und Liebedienern umgeben wissen. Er verlangt die Achtung, die er anderen verweigert. Der Stolze ist mit sich allein. Der Eitle erheischt Bewunderung. Der Arrogante indes fordert Unterwerfung. Er verspottet, verachtet die anderen, degradiert sie zu Dienern seines Größenwahns. Im Angesicht des Herrn sollen sie niederknien, zu Kreuze kriechen, sollen ihn anbeten und sich selbst erniedrigen. Der Hochmut hebt das Gesetz wechselseitiger Anerkennung auf. Er ist das soziale Laster par excellence. Aber sein Triumph ist flüchtig. Die Lüge ist stets die Sache der Knechte. Was zählt der Applaus von Kriechern, die sich selbst verachten?

In Zeiten des Individualismus verbreitet sich Gefallsucht wie eine Seuche. In einer Ökonomie der Aufmerksamkeit hecheln unzählige Zeitgenossen danach, bekannt und prominent zu werden - durch Geschwätz, penetrante Medienpräsenz oder die effektvolle Verschönerung ihrer Körper. Der Wunsch nach Bedeutung verführt zu Prahlerei und Profilneurosen. Je skurriler und schamloser, desto größer die Resonanz. Diese Gier nach Beachtung ist eine Beleidigung des Publikums. Sie ist lästig, manchmal komisch, selten gefährlich.

Weniger harmlos ist der Hochmut, der Kollektive erfasst oder sich in Institutionen verfestigt. Religiöse Arroganz treibt zu missionarischem Eifer und rechtfertigt heilige Kriege gegen Ungläubige. Terroristische Fanatiker überspielen ihren Selbsthass nicht selten mit der selbstgefälligen Verachtung alles Dekadenten. Ethnischer oder nationaler Hochmut sieht die eigene Welt umzingelt von Fremden und Feinden minderen Werts. Die Barbaren und Wilden, das sind die anderen, die man straflos verlachen, verspotten, verfolgen, vernichten darf.

Kraft und Stärke der Gemeinschaft strahlen auf den Hochmütigen ab. Ob zwischen Clans oder Clubs, zwischen Familien, Ständen oder Städten, zwischen Firmen, Parteien oder Nationen, die Arroganz ist eine historische Triebkraft. Von Generation zu Generation wird sie vererbt. Auf Kindesbeinen lernen die Nachfahren früher die Nase zu rümpfen als sie zu putzen. Mit abschätzigem Blick beäugen die Rivalen einander und fordern voneinander Unterwürfigkeit. Verweigert die Gegenseite die Anerkennung, entstehen Kämpfe um Rang und Platz.

Der Sieger lässt sich mit geschwellter Brust durch die Menge tragen, in langer Reihe folgen die Unterlegenen mit gebücktem Haupt; beim Durchschreiten des dreitorigen Ehrenbogens brandet Jubel auf. Ein Sklave hält dem Sieger den Lorbeer über den Kopf und flüstert ihm unermüdlich den alten Mahnruf ins Ohr: "memento te hominem esse" – "Bedenke, dass Du ein Mensch bist"; "memento mori" - Bedenke, dass auch Du sterben musst."


Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u. a.: 'Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager' (1993), 'Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition' (mit Rainer Paris, 1994) und 'Traktat über die Gewalt' (1996). 2002 erschien 'Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg', und zuletzt der Band 'Operation Freiheit. Der Krieg im Irak'.