Vom Bürger beauftragt
Vor 20 Jahren richtete Schleswig-Holstein als eines der ersten Länder das Amt eines Bürgerbeauftragten ein. Während die Anzahl der Beschwerden stetig steigt, haben sich die Gründe der Beschwerden im Laufe der Jahre immer wieder verändert. Oft kann die Landesbeauftragte nicht helfen, weil es um Bundesrecht geht. Und eine wichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist: schon in den Schulen zu mehr Eigenverantwortung erziehen. Sich Widerspruch leisten, lernen, den Protest zu formulieren.
Birgit Wille-Handels hat Sprechstunde. Gleich der erste Besucher – er wird von der Bürgerbeauftragten Petitent genannt – macht seinem Ärger so richtig Luft. Er hat keine Lust mehr, sich mit Behörden abzugeben, oder in seinen Worten:
"Wisst Ihr was? Macht Euren Scheiß alleine! Ich mach gar nichts." – "Was hat Sie denn jetzt so verärgert? Um was geht’s denn?" – "Um was das geht? Ich hab gearbeitet, dann krieg ich nen Herzinfarkt, keiner kümmert sich um mich, dann kommst du wieder raus der Kur, ja, dann sagst bei der Kur Bescheid, wie sieht's denn aus, sechs Wochen sind um, näch. Ja, ja, dann kriegen Sie von der BfA Geld. Ja, dann kommst Du hier an, dann ärgerst Du Dich hier gleich weiter, weil kein Geld drauf ist, dann rennst Du hier 20 oder 30 mal her, und was kriegst Du? Gar nischt!"
Birgit Wille-Handels blickt den Petitenten aufmerksam an, nickt immer wieder und ermuntert ihn so, seine Geschichte zu erzählen. Dabei macht sie sich Notizen. Sie bietet ihm Hilfe an.
Wille-Handels: "Jetzt haben wir aber ein Problem, also, wenn die sagen ..."
Aber der Mann will gar nicht, dass die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein sich für sein Anliegen einsetzt. Er besteht lediglich darauf, dass die Rentenversicherung sich dafür entschuldigt, auf seine Schreiben nicht reagiert zu haben. Die Bürgerbeauftragte geht geduldig darauf ein.
Wille-Handels: "Jetzt machen wir das erstmal so: dann kann ich die Rentenversicherung doch mal anschreiben, dass Sie ne Entschuldigung wollen, und dass Sie wissen wollen, worum das ging."
Ihr Besucher gerät schon wieder in Rage und schimpft über seine Erfahrungen mit den verschiedenen Behörden.
Petitent 1: "Ein Kreislauf ist das: ach geh mal dahin, nee, wir nicht, geh mal da hin, geh mal da hin, geh mal da hin!"
Birgit Wille-Handels bietet erneut an, ihm zu helfen.
Wille-Handels und Petitent 1: "Ich frag Sie jetzt aber noch mal: sollen wir da was für Sie tun? Ganz konkret, mit der Behörde uns in Verbindung setzen, und dann sagen, dass Sie hier waren, und das wir das prüfen wollen, dass wir uns die Akte angucken wollen, ob das alles richtig ist?" – "Nee, da warten wir erst noch mal. Ich kann's mir ja noch mal überlegen, und dann sag ich Ihnen Bescheid." – "Das ist ein Angebot, näch? Nicht, dass Sie jetzt rausgehen und sagen, och, die hat mir auch nicht geholfen, sondern das würden wir schon gerne für Sie tun."
Nein – in diesem Fall soll die Bürgerbeauftragte nicht tätig werden. Dennoch hat sie ihre Aufgabe erfüllt – sie hat einfach zugehört, und das ist für viele Menschen, die sich an sie wenden, ganz wichtig, berichtet Birgit Wille-Handels.
Wille-Handels: "Das gehört ja zu unserer Arbeit mit dazu. Wenn wir mit den Menschen reden, dann erzählen uns die Menschen ja auch, wie es ihnen geht, und wie sie es empfinden. Und die sind ja auch verärgert, verängstigt, was man sich alles vorstellen kann, und ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger merken auch, dass sie in einem geschützten Raum sind, dass sie das hier auch sagen können, wie es ihnen ist, und dass das nicht nach draußen geht, wenn sie es nicht wollen. Wir sind ja auch nicht diejenigen, die letztendlich auch entscheiden, ob das Geld fließt oder nicht. Das ist für uns schon ein Vorteil. Wir sind ganz unabhängig."
Dass die Menschen in Schleswig-Holstein, die sich über Behörden ärgern, eine unabhängige Anlaufstelle haben, geht auf den früheren sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Björn Engholm zurück. In seiner Regierungserklärung 1988 kündigte er an:
Engholm: "Die Landesregierung wird noch in diesem Jahr einen Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten berufen. Er soll gleichzeitig die Interessen der Behinderten gegenüber der Verwaltung und der Politik wahrnehmen. Er wird unabhängig sein und auf der Seite derer stehen, die in Not um Hilfe nachsuchen."
Heute erinnert sich Björn Engholm daran, wie es zu dieser Idee kam.
Engholm: "Es war glaube ich meine Erfahrung, die ich über 15 Jahr Tätigkeit im Parlament gemacht habe. Man hielt seine Sprechstunden ab als Abgeordneter, und stellte fest, dass die Leute unglaubliche Geschichten über ihre Behandlung vor staatlichen Behörden erzählten, wo man hinterherhakte und dann endlose Prozesse in Gang setzte. Und da haben wir beschlossen, ich glaube es war so meine Idee damals zu sagen, wir brauchen einen Bürgerbeauftragten, der unabhängig ist von Weisungen der Regierung, unabhängig von Weisungen irgendeiner Behörde, mit vielen Zugangsrechten. Und den haben wir dann geschaffen, und der hat glaube ich viel Segensreiches für Menschen mit Sorgen im Lande bewegt."
Björn Engholm hat sich dabei – wie bei anderen Themen auch – vom skandinavischen Vorbild inspirieren lassen.
Engholm: "Also der Ombudsmann in Skandinavien, der sehr direkten Zugang zu Akten, zu Unterlagen, zu Informationen hat, den niemand aufhalten kann, wenn es um die Interessen von Petenten, also von Bürgern mit Sorgen geht, den haben wir uns zum Vorbild genommen. Man kann Skandinavien nicht nach Schleswig-Holstein transportieren, aber die Grundidee ist hier hängen geblieben."
Der Plan, auch in Schleswig-Holstein einen Ombudsmann oder eine Ombudsfrau einzusetzen, stieß damals zunächst durchaus auf Skepsis, sagt Björn Engholm – auch in seiner eigenen Partei.
Engholm: "Also es gab auch Sozialdemokraten zu der Zeit, die sagten, also wenn wir nen ausgebauten guten Sozialstaat haben, das ist doch das Perfektum, was man sich als Sozialdemokrat überhaupt vorstellen kann. Bis ich denen erzählt habe, und was auch Anderer ja wussten, dass der Staat natürlich zum Teil entsetzlich langsam mahlende Mühlen hat. Und wenn jemand auf Geld angewiesen ist, auf Entscheidungen, auf Hilfen, und er muss ein halbes Jahr warten, er muss sich nen Anwalt nehmen, und da haben wir gesagt, wir setzen für Leute, die sich nen Anwalt nicht leisten können, die dringend auf morgige Entscheidungen angewiesen sind, dafür setzen wir diesen Bürgerbeauftragten ein, sozusagen auch gegen den Staat und seine Bürokratie operierend."
Ein besonders kämpferischer erster Bürgerbeauftragter half dabei, das von Björn Engholm eingerichtete Amt zu etablieren.
Engholm: "Der erste Bürgerbeauftragte war Eugen Glombig, den ich aus dem Bundestag kannte. Also wir gehörten nicht zum selben Flügel unserer Partei, Eugen war ein strammer konservativer Sozialdemokrat. Er war schwerstbehindert. Und wenn es um die Sorgen von Leuten ging mit Behinderung, mit ungerechter Behandlung, dann hat er sich sozusagen auf diese Pferd geschwungen und hat nicht nachgelassen mit dem Galopp bis die Leute ihr Recht bekamen. Und wir haben gesehen am Beispiel der Erfolge: solche Einrichtungen sind substanziell notwendig – auch in funktionierenden preußischen Bürokratien."
Zum ersten Bürgerbeauftragten Eugen Glombig kamen vor 20 Jahren zunächst 300 Bürger, im zweiten Jahr schon 800. In jüngster Zeit hat die Zahl der Petitenten stark zugenommen. Im vergangenen Jahr wandten sich 3400 Ratsuchende an Birgit Wille-Handels – davon allein ein Drittel im Zusammenhang mit dem Sozialgesetzbuch II – also wegen Hartz IV.
Wille-Handels "Das sind eben die Studenten, die mit dem Studium zu Ende sind, und eben nen Berufsstart suchen. Es sind diejenigen, die rentennah sind, die gucken müssen, wie sie das eben noch bis zur Rente schaffen. Es sind diejenigen, die allein erziehend sind mit Kindern und eben keine Arbeitsstelle finden oder eben nur in geringem Umfang. Es sind Menschen, die vollschichtig arbeiten aber mit ihrem Geld die Familie nicht ernähren können, die so genannten Aufstocker. Es sind Menschen, die selbständig sind, eine selbständige Tätigkeit ausführen aber eben damit auch nicht ihr Auskommen oder ihr Einkommen bestreiten können – also das ist eine Riesengruppe von Menschen, die ganz unterschiedlich sind. Also es gibt nicht den SGB II-Empfänger oder Hartz IV-Empfänger, es sind ganz individuelle und ganz unterschiedliche Lebenssituationen in denen die Menschen sind."
Und diese Menschen suchen eben oft Rat bei der Bürgerbeauftragten, weil sie mit der Arbeit der für Hartz-IV-Fälle zuständigen Arbeitsgemeinschaften unzufrieden sind. Markus Dusch, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft in Lübeck, ist über die Flut der Beschwerden nicht verwundert.
Dusch: "Das kommt daher, dass ein völlig neues Gesetz in Kraft getreten ist und dieses Gesetz sehr schlank ausgearbeitet worden ist, d.h., viele, viele Fragen, die bereits durch die Gesetze festgelegt waren, sind jetzt nicht mehr festgelegt und mussten halt neu diskutiert werden."
Markus Dusch hat aber nichts dagegen, dass die Hartz-IV-Antragsteller Bescheide seiner Behörde nicht einfach hinnehmen. Beleidigt ist er deshalb nicht, sagt er:
Dusch: "Nein, beim besten Willen nicht. Das ist eine weitere Möglichkeit, die der Bürger hat, die der Bürger auch nutzen soll. Es ist verständlich, wenn man ablehnende Bescheide von einer Behörde bekommt, dass man diese dann noch mal von einer unabhängigen Stelle überprüfen lassen möchte, und hier ist der Bereich von Frau Wille-Handels hervorragend, denn es wird dort auch erklärt – und das hilft uns auch ungemein."
Dann nämlich, wenn die Bürgerbeauftragte mit ihren zehn Mitarbeitern zu dem Ergebnis kommt, dass ein Hartz-IV-Bescheid fehlerfrei ist und sich ein Widerspruch nicht lohnt. Damit geben sich viele Antragsteller dann zufrieden.
Dusch: "Man glaubt uns eben weniger als einer unabhängigen Instanz wie der Bürgerbeauftragten."
Die nächste Besucherin der Bürgerbeauftragten ist eine Frau, die demnächst Leistungen nach Hartz IV beantragen will. Sie musste ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Rente bekommt sie erst in ein paar Jahren. Aber sie hat vorgesorgt – mit zwei Lebensversicherungen. Sie möchte wissen, in welchem Umfang man von ihr verlangt, die Rücklagen anzugreifen.
Petitentin: "Ich weiß, pro Lebensjahr darf ich eine bestimmte Summe Lebensversicherung haben. Wie hoch ist die Summe, die dann von der tatsächlichen Summe abgezogen wird, und welche Summe bleibt ungefähr übrig, die dann in die Berechnung geht."
Das möchte sie gern wissen, bevor sie den Hartz-IV-Antrag abgibt. Die zuständige Sachbearbeiterin konnte ihr keine Antwort geben. Die Frau hat Angst.
Petitentin: "Dass man mir das jetzt alles noch wegnimmt, was noch da ist, dass davon gar nichts übrig bleibt, das ist meine Befürchtung – dann damit klar zu kommen, was man mir zuteilt."
Die Bürgerbeauftragte will helfen.
Wille-Handels: "Wir machen mal Folgendes: Wir prüfen mal, was eventuell frei gestellt wird, also wie das dann bewertet wird, näch, dann müssen wir die unterschiedlichen Versicherungen uns noch mal angucken."
Ein typischer Fall, sagt Birgit-Wille Handels, und erklärt, wie sie vorgeht.
Wille-Handels: "Ich hab mir jetzt ein Bild gemacht, ich hab die Unterlagen kopiert, die die Petitentin mitgebracht hat, ich hab mir nen ersten Eindruck verschafft, ich habe Fragen gestellt, die ich für relevant halte, um den Sachverhalt weiter vertiefend bearbeiten zu können, und ich nehm das jetzt. Und meine Kollegen, die noch fitter und besser sind in dem Thema, mit denen werde ich das besprechen. Wir werden das wirklich ganz tief prüfen, was angerechnet wird, ob überhaupt angerechnet werden muss, dass die Petitentin dann auch etwas an die Hand bekommt, wo sie eben weiß, aha, so muss man das sehen und so ist das auch rechtlich richtig zu beurteilen."
Erleichtert verlässt die Petitentin die Sprechstunde der schleswig-holsteinischen Bürgerbeauftragten.
Petitentin: "Da war ich schon ganz froh und glücklich darüber, dass dieser Termin so schnell auch stattfinden konnte. Die wird das jetzt rausfinden."
Hier greift die Bürgerbeauftragte also schon sehr früh ein. Denn einen Streit über die Höhe der künftigen Leistungen gibt es ja in diesem Fall nicht oder noch nicht. Die Hartz-IV-Sachbearbeiterin hatte der Petitentin ja nur gesagt, dass sie vorab keine Auskunft geben könne. Birgit Wille-Handels will dennoch helfen.
Wille-Handels: "Der Landesgesetzgeber hat gesagt, dass die Bürgerbeauftragte informieren, beraten und persönlich eben auch unterstützen soll. Und das war eben so eine Information und auch eine Beratung, wie geht’s jetzt weiter, wie muss ich mit dem Sachverhalt umgehen. Es war ja auch so ein bisschen so, dass man sagt, ich hab da nicht so die richtigen Antworten bekommen, ich muss ja ganz genau wissen, was da jetzt auf mich zu kommt, wie werden jetzt diese Versicherungen bewertet, ich muss mich ja jetzt darauf einstellen, das ist ja wichtig für das ganze Leben, was da jetzt noch vor einem liegt. Und da muss man schon eine qualifizierte Beratung und Information haben. Und ich glaube, die Petitentin hat das ganz gut dargestellt, dass ihr das einfach gefehlt hat, dass sich da jemand hinsetzt und sagt, ja guck mal, wie sieht das jetzt aus, bis Du in Rente geht’s. Da möchte man ja Klarheit haben."
Und zwar schon vor der Abgabe des Antrags. Der Leiter der für Hartz-IV zuständigen Arbeitsgemeinschaft in Lübeck kann diesen Wunsch verstehen – aber nicht erfüllen, erklärt er.
Dusch: "Es ist sehr schwierig, aufgrund von Aussagen zu sagen, wie hoch die Leistung ist. Da spielt so viel mit rein. Da spielen persönliche Lebensumstände mit rein, da spielt Vermögen mit rein, da spielen Spareinlagen mit rein, Einkommen. Da sind unendlich viele Sachen, die da mit reinspielen. Da muss man wirklich nen Antrag stellen. Eine pauschale Aussage würde ich da auch nicht machen, denn man kann Personen dann damit enttäuschen."
Die Bürgerbeauftragte Birgit Wille-Handels ist aber anderer Meinung.
Wille-Handels: "Es sind ja einfach auch Ängste da, und man will sich auch einstellen, man will wissen, wo man ist und wo man steht, und da wäre es eben günstig und für viele auch sehr hilfreich, wenn man eine komplette, richtige, ruhige Beratung hat, die einem den Sachverhalt und die Probleme eben auch aufzeigt und einen auch berät und nicht nur so: ja dann stellen Sie nen Antrag und dann werden Sie schon sehen, was dabei rumkommt."
Dass Menschen sich schon an die Bürgerbeauftragte wenden, bevor sie einen Streit mit einer Behörde haben, ist aber eher selten.
Wille-Handels: "Die meisten kommen doch, wenn ein richtiger Konfliktfall vorliegt – also wo man was beantragt hat und das wird abgelehnt. Oder wo man das in dem Bescheid nicht nachvollziehen kann. Oder wo man sich bemüht hat und man kriegt die Behörde nicht zu ner Aussage bewegt, also wo man wirklich so im Dunkeln tappt und dann eben so ins Leere laufen gelassen wird. Das ist ja auch eine Form von Nichtberatung und Missachtung von Bürgerinnen und Bürgern, indem man die einfach so laufen lässt und es wird sich schon irgendwie zurechtschütteln meistens nur nicht so sehr für den Bürger aber für die Verwaltung schon."
Neben Unklarheiten oder Streitigkeiten im Zusammenhang mit Hartz IV hat die Bürgerbeauftragte vor allem mit den Bereichen Krankenversicherung und Rentenversicherung zu tun sowie mit Problemen Behinderter. Weitere Schwerpunkte sind die Grundsicherung im Alter und die Eingliederungshilfe.
Wille-Handels: "Und dann gibt’s eben noch Unfallversicherung, oder Kriegsopferentschädigung – es ist nicht mehr so im Vordergrund, aber doch ein Thema, was auch immer noch mal ab und an vorkommt, Heimgesetz und Wohngeld und BAföG und Kindergarten-Angelegenheiten, Jugendhilfe-Angelegenheiten – also eine ganz breite Palette."
Die heutige Bürgerbeauftragte in Schleswig-Holstein hat es mit viel mehr Ratsuchenden zu tun als ihre Vorgänger – Birgit Wille-Handels erklärt das mit einem Wandel des Verhältnisses von Staat und Bürgern zueinander.
Wille-Handels: "Was wir festgestellt haben, ist, dass von den Bürgerinnen und Bürgern mehr Eigenverantwortung erwartet wird, also, dass der Staat nicht für alles aufkommen kann, dass der Bürger selber Vorsorge betreiben muss und selbstverantwortlich auch sein Leben gestalten muss. Und das hat immer zwei Aspekte. Im Behinderten-Bereich sehen wir, dass das eigentlich wirklich ne Wohltat ist, dass Behinderte nicht mehr bevormundet werden, dass sie ihr Leben selbst gestalten. Auf der anderen Seite ist es eben so, dass der Staat sich aus manchen Dingen zurückgezogen hat. Und da wird es eben von den Bürgerinnen und Bürgern als negativ empfunden, als ein Zurückweichen des Staates, als ein Alleinlassen, und das ist dann schwierig, näch."
Immer wieder einmal kommt es vor, dass Birgit Wille-Handels nicht helfen kann. Nicht nur, wenn jemand zu spät zu ihr kommt, auch wenn sich ein Bürger beispielsweise über einen abgelehnten Bauantrag oder eine Steuernachzahlung beschwert, oder auch über einen Strafzettel für falsches Parken:
Wille-Handels: "Aber da bin ich nicht für zuständig."
Denn sie kümmert sich nur um soziale Angelegenheiten. Allerdings: für Vieles in diesem Bereich ist der Bund zuständig. Das macht es der Landesbeauftragten manchmal schwer.
Wille-Handels: "Bei Landesbehörden haben wir ja ne ganz andere Möglichkeit. Es sind ja Landesbehörden und ich bin ne Landesbürgerbeauftragte. Da können wir Akteneinsicht nehmen, da können wir die Akten anfordern. Das ist bei Bundesbehörden viel schwieriger. Da müssen wir sozusagen vom Bürger mandatiert werden, um für ihn eben die Sachverhalte mit der Behörde zu besprechen. Aber wie gesagt, der Schleswig-Holsteiner Bürger oder die Bürgerin soll ja auch nicht allein vor ner Bundesbehörde stehen, sondern soll hier auch Rat und Hilfe und Unterstützung bekommen, und das machen wir dann auch."
Leichter wäre das aber oft, wenn sie und ihre zehn Mitarbeiter dabei mit einem Bürgerbeauftragten des Bundes zusammenarbeiten könnten, sagt Birgit Wille-Handels. Deshalb tritt sie dafür ein, so wie in den meisten anderen EU-Ländern auch in Deutschland die Stelle eines nationalen Bürgerbeauftragten einzurichten. Dafür wirbt sie auch in ihrer Funktion als Sprecherin aller Landesbürgerbeauftragten.
Die Ombudsfrau bei der "Berliner Zeitung" - Karin Stemmler
Von Dorothea Jung
Ärger mit der Agentur für Arbeit, Zwist mit der Versicherung, Streitigkeiten mit einem Hersteller - In Berlin schaltet sich Karin Stemmler ein, wenn zwei Parteien keine Einigung gelingt. Die ausgebildete Journalistin arbeitet bei der Berliner Zeitung.
Stemmler: "Ja, wir sind fertig, du kannst die Seite abschieben. Ich dank Dir schön, mach 's gut, Ciao. - - Das war meine Layouterin; sie hat die Seite fertig gemacht, sie muss jetzt die Bilder reinstellen; aber wir vom Text her, wir sind fertig."
Freitagnachmittag im elten Stock des Verlagsgebäudes der Berliner Zeitung. Karin Stemmler hatte in den letzten Stunden nur wenig Aufmerksamkeit für den spektakulären Blick aus ihrem Arbeitszimmer, der ihr das östliche Zentrum Berlins zu Füßen legt. Denn die Ombudsfrau der Zeitung hatte die ganz normale Meinungsseite des Blattes mit Leserzuschriften und Kommentaren für Samstag zu redigieren - und die Ombuds-Seite für die nächste Woche vorzubereiten.
Stemmler: "Die machen wir am Montag; da haben wir vielleicht ein Hundehalsband, ein Hundehalsband, was elektronisch funktioniert und dem Hund irgendwie über Impulse sagt: "Komm zurück zu Herrchen", und das konnten die Leute aber nicht anwenden, weil schlicht die deutsche Gebrauchsanweisung fehlte."
Die Erfahrung dieses Lesers: Ein Hersteller, der mehr als 300 Euro für ein Hundehalsband verlangt, und dafür noch nicht einmal eine Gebrauchsanweisung auf Deutsch nachliefern will. Und der auch nach langwierigem Schriftverkehr nicht bereit ist, den Verkaufspreis zu erstatten.
Stemmler: "Und das ging jetzt ewig hin und her, und wir mussten uns also einschalten, damit die ihr Geld wiederkriegten.""
Karin Stemmler ist eine stattliche, schlanke Frau von 51 Jahren. Eine gepflegte Erscheinung mit Glencheck-Hose und Weste in Beige und Braun; das blonde Haar im Nacken zusammen gebunden. Die Ombudsfrau der Berliner Zeitung strahlt Seriosität, Resolutheit und Sanftmut aus. Genau die richtige Mischung, um sowohl hartnäckig als auch diplomatisch mit Verantwortlichen in Firmen oder Behörden zu verhandeln. Zwar ohne juristische Kompetenz, aber dafür mit dem Druck der öffentlichen Meinung als Beistand.
Stemmler: "Das gängige Geschäft ist: Jemand kriegt sein Arbeitslosengeld II nicht; jemand schafft es nicht, weil die Eltern zerstritten sind, die Unterlagen beizubringen, die nötig sind, um Bafög zu bekommen; - Versicherungen! Da hat sich eben jemand mehr als drei Meter vom Herd entfernt, und wenn dann ein Feuer ausbricht, dann zahlen sie eben nicht. Und dann versuchen wir, etwas Verständnis zu wecken und zu sagen: Vielleicht können wir auf dem Wege der Kulanz etwas machen. Also: Klar, Sie haben Recht, wir würden es auch im Artikel schreiben, aber es wär doch nett, wenn wir hier den alten Menschen helfen, dass sie hier eine neue Küche kriegen oder so."
Am häufigsten wurde die Redaktion bislang gebeten, bei Konflikten mit Telekommunikationsunternehmen zu helfen - doch seit einem Jahr hat die Zeitung entschieden, derartige Fälle an die Regulierungsbehörde weiterzuleiten - damit auch die Politik sich den Zumutungen dieser Branche widmet. Überhaupt sieht sich die Ombudsfrau häufig lediglich in der Rolle einer Wegweiserin für Menschen in Not.
Stemmler: "Da ruft jemand an und erklärt: Hier ist was ganz ganz Schlimmes; dann hör ich 's mir an ; weiß: das ist keine Sache, die es jemals in die Zeitung schaffen würde, aber es gibt Organisationen, die sich drum kümmern; wir haben ein Riesen-Netzwerk von Leuten, die dann helfen können; oder man sagt: Ich kümmer mich selber drum."
Karin Stemmlers beruflicher Werdegang ist eng mit der Berliner Zeitung verknüpft. Noch zu DDR-Zeiten absolvierte sie hier ihr Volontariat. Sie studierte in Leipzig Journalismus und leitete nach der Wende zunächst 13 Jahre lang das Ratgeber-Ressort, bevor sie ihren jetzigen Posten vom ersten Ombudsmann des Blattes übernahm: Das war der ehemalige Regierende Bürgermeister Westberlins, Klaus Schütz. Der renommierte Politiker öffnete der Redaktion der einstigen DDR-Zeitung viele Türen im Westen. Doch heute ist Ombudsfrau Karin Stemmler eine Institution in Berlin. Und die Mutter einer erwachsenen Tochter ist es gern.
Stemmler: "Du beschreibst nicht nur irgendwas, und es ist jetzt egal, ob es in der Zeitung steht oder nicht; sondern du kannst wirklich Leiten damit helfen, und das ist schon 'ne Sache, die auch Befriedigung bringt."
"Wisst Ihr was? Macht Euren Scheiß alleine! Ich mach gar nichts." – "Was hat Sie denn jetzt so verärgert? Um was geht’s denn?" – "Um was das geht? Ich hab gearbeitet, dann krieg ich nen Herzinfarkt, keiner kümmert sich um mich, dann kommst du wieder raus der Kur, ja, dann sagst bei der Kur Bescheid, wie sieht's denn aus, sechs Wochen sind um, näch. Ja, ja, dann kriegen Sie von der BfA Geld. Ja, dann kommst Du hier an, dann ärgerst Du Dich hier gleich weiter, weil kein Geld drauf ist, dann rennst Du hier 20 oder 30 mal her, und was kriegst Du? Gar nischt!"
Birgit Wille-Handels blickt den Petitenten aufmerksam an, nickt immer wieder und ermuntert ihn so, seine Geschichte zu erzählen. Dabei macht sie sich Notizen. Sie bietet ihm Hilfe an.
Wille-Handels: "Jetzt haben wir aber ein Problem, also, wenn die sagen ..."
Aber der Mann will gar nicht, dass die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein sich für sein Anliegen einsetzt. Er besteht lediglich darauf, dass die Rentenversicherung sich dafür entschuldigt, auf seine Schreiben nicht reagiert zu haben. Die Bürgerbeauftragte geht geduldig darauf ein.
Wille-Handels: "Jetzt machen wir das erstmal so: dann kann ich die Rentenversicherung doch mal anschreiben, dass Sie ne Entschuldigung wollen, und dass Sie wissen wollen, worum das ging."
Ihr Besucher gerät schon wieder in Rage und schimpft über seine Erfahrungen mit den verschiedenen Behörden.
Petitent 1: "Ein Kreislauf ist das: ach geh mal dahin, nee, wir nicht, geh mal da hin, geh mal da hin, geh mal da hin!"
Birgit Wille-Handels bietet erneut an, ihm zu helfen.
Wille-Handels und Petitent 1: "Ich frag Sie jetzt aber noch mal: sollen wir da was für Sie tun? Ganz konkret, mit der Behörde uns in Verbindung setzen, und dann sagen, dass Sie hier waren, und das wir das prüfen wollen, dass wir uns die Akte angucken wollen, ob das alles richtig ist?" – "Nee, da warten wir erst noch mal. Ich kann's mir ja noch mal überlegen, und dann sag ich Ihnen Bescheid." – "Das ist ein Angebot, näch? Nicht, dass Sie jetzt rausgehen und sagen, och, die hat mir auch nicht geholfen, sondern das würden wir schon gerne für Sie tun."
Nein – in diesem Fall soll die Bürgerbeauftragte nicht tätig werden. Dennoch hat sie ihre Aufgabe erfüllt – sie hat einfach zugehört, und das ist für viele Menschen, die sich an sie wenden, ganz wichtig, berichtet Birgit Wille-Handels.
Wille-Handels: "Das gehört ja zu unserer Arbeit mit dazu. Wenn wir mit den Menschen reden, dann erzählen uns die Menschen ja auch, wie es ihnen geht, und wie sie es empfinden. Und die sind ja auch verärgert, verängstigt, was man sich alles vorstellen kann, und ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger merken auch, dass sie in einem geschützten Raum sind, dass sie das hier auch sagen können, wie es ihnen ist, und dass das nicht nach draußen geht, wenn sie es nicht wollen. Wir sind ja auch nicht diejenigen, die letztendlich auch entscheiden, ob das Geld fließt oder nicht. Das ist für uns schon ein Vorteil. Wir sind ganz unabhängig."
Dass die Menschen in Schleswig-Holstein, die sich über Behörden ärgern, eine unabhängige Anlaufstelle haben, geht auf den früheren sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Björn Engholm zurück. In seiner Regierungserklärung 1988 kündigte er an:
Engholm: "Die Landesregierung wird noch in diesem Jahr einen Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten berufen. Er soll gleichzeitig die Interessen der Behinderten gegenüber der Verwaltung und der Politik wahrnehmen. Er wird unabhängig sein und auf der Seite derer stehen, die in Not um Hilfe nachsuchen."
Heute erinnert sich Björn Engholm daran, wie es zu dieser Idee kam.
Engholm: "Es war glaube ich meine Erfahrung, die ich über 15 Jahr Tätigkeit im Parlament gemacht habe. Man hielt seine Sprechstunden ab als Abgeordneter, und stellte fest, dass die Leute unglaubliche Geschichten über ihre Behandlung vor staatlichen Behörden erzählten, wo man hinterherhakte und dann endlose Prozesse in Gang setzte. Und da haben wir beschlossen, ich glaube es war so meine Idee damals zu sagen, wir brauchen einen Bürgerbeauftragten, der unabhängig ist von Weisungen der Regierung, unabhängig von Weisungen irgendeiner Behörde, mit vielen Zugangsrechten. Und den haben wir dann geschaffen, und der hat glaube ich viel Segensreiches für Menschen mit Sorgen im Lande bewegt."
Björn Engholm hat sich dabei – wie bei anderen Themen auch – vom skandinavischen Vorbild inspirieren lassen.
Engholm: "Also der Ombudsmann in Skandinavien, der sehr direkten Zugang zu Akten, zu Unterlagen, zu Informationen hat, den niemand aufhalten kann, wenn es um die Interessen von Petenten, also von Bürgern mit Sorgen geht, den haben wir uns zum Vorbild genommen. Man kann Skandinavien nicht nach Schleswig-Holstein transportieren, aber die Grundidee ist hier hängen geblieben."
Der Plan, auch in Schleswig-Holstein einen Ombudsmann oder eine Ombudsfrau einzusetzen, stieß damals zunächst durchaus auf Skepsis, sagt Björn Engholm – auch in seiner eigenen Partei.
Engholm: "Also es gab auch Sozialdemokraten zu der Zeit, die sagten, also wenn wir nen ausgebauten guten Sozialstaat haben, das ist doch das Perfektum, was man sich als Sozialdemokrat überhaupt vorstellen kann. Bis ich denen erzählt habe, und was auch Anderer ja wussten, dass der Staat natürlich zum Teil entsetzlich langsam mahlende Mühlen hat. Und wenn jemand auf Geld angewiesen ist, auf Entscheidungen, auf Hilfen, und er muss ein halbes Jahr warten, er muss sich nen Anwalt nehmen, und da haben wir gesagt, wir setzen für Leute, die sich nen Anwalt nicht leisten können, die dringend auf morgige Entscheidungen angewiesen sind, dafür setzen wir diesen Bürgerbeauftragten ein, sozusagen auch gegen den Staat und seine Bürokratie operierend."
Ein besonders kämpferischer erster Bürgerbeauftragter half dabei, das von Björn Engholm eingerichtete Amt zu etablieren.
Engholm: "Der erste Bürgerbeauftragte war Eugen Glombig, den ich aus dem Bundestag kannte. Also wir gehörten nicht zum selben Flügel unserer Partei, Eugen war ein strammer konservativer Sozialdemokrat. Er war schwerstbehindert. Und wenn es um die Sorgen von Leuten ging mit Behinderung, mit ungerechter Behandlung, dann hat er sich sozusagen auf diese Pferd geschwungen und hat nicht nachgelassen mit dem Galopp bis die Leute ihr Recht bekamen. Und wir haben gesehen am Beispiel der Erfolge: solche Einrichtungen sind substanziell notwendig – auch in funktionierenden preußischen Bürokratien."
Zum ersten Bürgerbeauftragten Eugen Glombig kamen vor 20 Jahren zunächst 300 Bürger, im zweiten Jahr schon 800. In jüngster Zeit hat die Zahl der Petitenten stark zugenommen. Im vergangenen Jahr wandten sich 3400 Ratsuchende an Birgit Wille-Handels – davon allein ein Drittel im Zusammenhang mit dem Sozialgesetzbuch II – also wegen Hartz IV.
Wille-Handels "Das sind eben die Studenten, die mit dem Studium zu Ende sind, und eben nen Berufsstart suchen. Es sind diejenigen, die rentennah sind, die gucken müssen, wie sie das eben noch bis zur Rente schaffen. Es sind diejenigen, die allein erziehend sind mit Kindern und eben keine Arbeitsstelle finden oder eben nur in geringem Umfang. Es sind Menschen, die vollschichtig arbeiten aber mit ihrem Geld die Familie nicht ernähren können, die so genannten Aufstocker. Es sind Menschen, die selbständig sind, eine selbständige Tätigkeit ausführen aber eben damit auch nicht ihr Auskommen oder ihr Einkommen bestreiten können – also das ist eine Riesengruppe von Menschen, die ganz unterschiedlich sind. Also es gibt nicht den SGB II-Empfänger oder Hartz IV-Empfänger, es sind ganz individuelle und ganz unterschiedliche Lebenssituationen in denen die Menschen sind."
Und diese Menschen suchen eben oft Rat bei der Bürgerbeauftragten, weil sie mit der Arbeit der für Hartz-IV-Fälle zuständigen Arbeitsgemeinschaften unzufrieden sind. Markus Dusch, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft in Lübeck, ist über die Flut der Beschwerden nicht verwundert.
Dusch: "Das kommt daher, dass ein völlig neues Gesetz in Kraft getreten ist und dieses Gesetz sehr schlank ausgearbeitet worden ist, d.h., viele, viele Fragen, die bereits durch die Gesetze festgelegt waren, sind jetzt nicht mehr festgelegt und mussten halt neu diskutiert werden."
Markus Dusch hat aber nichts dagegen, dass die Hartz-IV-Antragsteller Bescheide seiner Behörde nicht einfach hinnehmen. Beleidigt ist er deshalb nicht, sagt er:
Dusch: "Nein, beim besten Willen nicht. Das ist eine weitere Möglichkeit, die der Bürger hat, die der Bürger auch nutzen soll. Es ist verständlich, wenn man ablehnende Bescheide von einer Behörde bekommt, dass man diese dann noch mal von einer unabhängigen Stelle überprüfen lassen möchte, und hier ist der Bereich von Frau Wille-Handels hervorragend, denn es wird dort auch erklärt – und das hilft uns auch ungemein."
Dann nämlich, wenn die Bürgerbeauftragte mit ihren zehn Mitarbeitern zu dem Ergebnis kommt, dass ein Hartz-IV-Bescheid fehlerfrei ist und sich ein Widerspruch nicht lohnt. Damit geben sich viele Antragsteller dann zufrieden.
Dusch: "Man glaubt uns eben weniger als einer unabhängigen Instanz wie der Bürgerbeauftragten."
Die nächste Besucherin der Bürgerbeauftragten ist eine Frau, die demnächst Leistungen nach Hartz IV beantragen will. Sie musste ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Rente bekommt sie erst in ein paar Jahren. Aber sie hat vorgesorgt – mit zwei Lebensversicherungen. Sie möchte wissen, in welchem Umfang man von ihr verlangt, die Rücklagen anzugreifen.
Petitentin: "Ich weiß, pro Lebensjahr darf ich eine bestimmte Summe Lebensversicherung haben. Wie hoch ist die Summe, die dann von der tatsächlichen Summe abgezogen wird, und welche Summe bleibt ungefähr übrig, die dann in die Berechnung geht."
Das möchte sie gern wissen, bevor sie den Hartz-IV-Antrag abgibt. Die zuständige Sachbearbeiterin konnte ihr keine Antwort geben. Die Frau hat Angst.
Petitentin: "Dass man mir das jetzt alles noch wegnimmt, was noch da ist, dass davon gar nichts übrig bleibt, das ist meine Befürchtung – dann damit klar zu kommen, was man mir zuteilt."
Die Bürgerbeauftragte will helfen.
Wille-Handels: "Wir machen mal Folgendes: Wir prüfen mal, was eventuell frei gestellt wird, also wie das dann bewertet wird, näch, dann müssen wir die unterschiedlichen Versicherungen uns noch mal angucken."
Ein typischer Fall, sagt Birgit-Wille Handels, und erklärt, wie sie vorgeht.
Wille-Handels: "Ich hab mir jetzt ein Bild gemacht, ich hab die Unterlagen kopiert, die die Petitentin mitgebracht hat, ich hab mir nen ersten Eindruck verschafft, ich habe Fragen gestellt, die ich für relevant halte, um den Sachverhalt weiter vertiefend bearbeiten zu können, und ich nehm das jetzt. Und meine Kollegen, die noch fitter und besser sind in dem Thema, mit denen werde ich das besprechen. Wir werden das wirklich ganz tief prüfen, was angerechnet wird, ob überhaupt angerechnet werden muss, dass die Petitentin dann auch etwas an die Hand bekommt, wo sie eben weiß, aha, so muss man das sehen und so ist das auch rechtlich richtig zu beurteilen."
Erleichtert verlässt die Petitentin die Sprechstunde der schleswig-holsteinischen Bürgerbeauftragten.
Petitentin: "Da war ich schon ganz froh und glücklich darüber, dass dieser Termin so schnell auch stattfinden konnte. Die wird das jetzt rausfinden."
Hier greift die Bürgerbeauftragte also schon sehr früh ein. Denn einen Streit über die Höhe der künftigen Leistungen gibt es ja in diesem Fall nicht oder noch nicht. Die Hartz-IV-Sachbearbeiterin hatte der Petitentin ja nur gesagt, dass sie vorab keine Auskunft geben könne. Birgit Wille-Handels will dennoch helfen.
Wille-Handels: "Der Landesgesetzgeber hat gesagt, dass die Bürgerbeauftragte informieren, beraten und persönlich eben auch unterstützen soll. Und das war eben so eine Information und auch eine Beratung, wie geht’s jetzt weiter, wie muss ich mit dem Sachverhalt umgehen. Es war ja auch so ein bisschen so, dass man sagt, ich hab da nicht so die richtigen Antworten bekommen, ich muss ja ganz genau wissen, was da jetzt auf mich zu kommt, wie werden jetzt diese Versicherungen bewertet, ich muss mich ja jetzt darauf einstellen, das ist ja wichtig für das ganze Leben, was da jetzt noch vor einem liegt. Und da muss man schon eine qualifizierte Beratung und Information haben. Und ich glaube, die Petitentin hat das ganz gut dargestellt, dass ihr das einfach gefehlt hat, dass sich da jemand hinsetzt und sagt, ja guck mal, wie sieht das jetzt aus, bis Du in Rente geht’s. Da möchte man ja Klarheit haben."
Und zwar schon vor der Abgabe des Antrags. Der Leiter der für Hartz-IV zuständigen Arbeitsgemeinschaft in Lübeck kann diesen Wunsch verstehen – aber nicht erfüllen, erklärt er.
Dusch: "Es ist sehr schwierig, aufgrund von Aussagen zu sagen, wie hoch die Leistung ist. Da spielt so viel mit rein. Da spielen persönliche Lebensumstände mit rein, da spielt Vermögen mit rein, da spielen Spareinlagen mit rein, Einkommen. Da sind unendlich viele Sachen, die da mit reinspielen. Da muss man wirklich nen Antrag stellen. Eine pauschale Aussage würde ich da auch nicht machen, denn man kann Personen dann damit enttäuschen."
Die Bürgerbeauftragte Birgit Wille-Handels ist aber anderer Meinung.
Wille-Handels: "Es sind ja einfach auch Ängste da, und man will sich auch einstellen, man will wissen, wo man ist und wo man steht, und da wäre es eben günstig und für viele auch sehr hilfreich, wenn man eine komplette, richtige, ruhige Beratung hat, die einem den Sachverhalt und die Probleme eben auch aufzeigt und einen auch berät und nicht nur so: ja dann stellen Sie nen Antrag und dann werden Sie schon sehen, was dabei rumkommt."
Dass Menschen sich schon an die Bürgerbeauftragte wenden, bevor sie einen Streit mit einer Behörde haben, ist aber eher selten.
Wille-Handels: "Die meisten kommen doch, wenn ein richtiger Konfliktfall vorliegt – also wo man was beantragt hat und das wird abgelehnt. Oder wo man das in dem Bescheid nicht nachvollziehen kann. Oder wo man sich bemüht hat und man kriegt die Behörde nicht zu ner Aussage bewegt, also wo man wirklich so im Dunkeln tappt und dann eben so ins Leere laufen gelassen wird. Das ist ja auch eine Form von Nichtberatung und Missachtung von Bürgerinnen und Bürgern, indem man die einfach so laufen lässt und es wird sich schon irgendwie zurechtschütteln meistens nur nicht so sehr für den Bürger aber für die Verwaltung schon."
Neben Unklarheiten oder Streitigkeiten im Zusammenhang mit Hartz IV hat die Bürgerbeauftragte vor allem mit den Bereichen Krankenversicherung und Rentenversicherung zu tun sowie mit Problemen Behinderter. Weitere Schwerpunkte sind die Grundsicherung im Alter und die Eingliederungshilfe.
Wille-Handels: "Und dann gibt’s eben noch Unfallversicherung, oder Kriegsopferentschädigung – es ist nicht mehr so im Vordergrund, aber doch ein Thema, was auch immer noch mal ab und an vorkommt, Heimgesetz und Wohngeld und BAföG und Kindergarten-Angelegenheiten, Jugendhilfe-Angelegenheiten – also eine ganz breite Palette."
Die heutige Bürgerbeauftragte in Schleswig-Holstein hat es mit viel mehr Ratsuchenden zu tun als ihre Vorgänger – Birgit Wille-Handels erklärt das mit einem Wandel des Verhältnisses von Staat und Bürgern zueinander.
Wille-Handels: "Was wir festgestellt haben, ist, dass von den Bürgerinnen und Bürgern mehr Eigenverantwortung erwartet wird, also, dass der Staat nicht für alles aufkommen kann, dass der Bürger selber Vorsorge betreiben muss und selbstverantwortlich auch sein Leben gestalten muss. Und das hat immer zwei Aspekte. Im Behinderten-Bereich sehen wir, dass das eigentlich wirklich ne Wohltat ist, dass Behinderte nicht mehr bevormundet werden, dass sie ihr Leben selbst gestalten. Auf der anderen Seite ist es eben so, dass der Staat sich aus manchen Dingen zurückgezogen hat. Und da wird es eben von den Bürgerinnen und Bürgern als negativ empfunden, als ein Zurückweichen des Staates, als ein Alleinlassen, und das ist dann schwierig, näch."
Immer wieder einmal kommt es vor, dass Birgit Wille-Handels nicht helfen kann. Nicht nur, wenn jemand zu spät zu ihr kommt, auch wenn sich ein Bürger beispielsweise über einen abgelehnten Bauantrag oder eine Steuernachzahlung beschwert, oder auch über einen Strafzettel für falsches Parken:
Wille-Handels: "Aber da bin ich nicht für zuständig."
Denn sie kümmert sich nur um soziale Angelegenheiten. Allerdings: für Vieles in diesem Bereich ist der Bund zuständig. Das macht es der Landesbeauftragten manchmal schwer.
Wille-Handels: "Bei Landesbehörden haben wir ja ne ganz andere Möglichkeit. Es sind ja Landesbehörden und ich bin ne Landesbürgerbeauftragte. Da können wir Akteneinsicht nehmen, da können wir die Akten anfordern. Das ist bei Bundesbehörden viel schwieriger. Da müssen wir sozusagen vom Bürger mandatiert werden, um für ihn eben die Sachverhalte mit der Behörde zu besprechen. Aber wie gesagt, der Schleswig-Holsteiner Bürger oder die Bürgerin soll ja auch nicht allein vor ner Bundesbehörde stehen, sondern soll hier auch Rat und Hilfe und Unterstützung bekommen, und das machen wir dann auch."
Leichter wäre das aber oft, wenn sie und ihre zehn Mitarbeiter dabei mit einem Bürgerbeauftragten des Bundes zusammenarbeiten könnten, sagt Birgit Wille-Handels. Deshalb tritt sie dafür ein, so wie in den meisten anderen EU-Ländern auch in Deutschland die Stelle eines nationalen Bürgerbeauftragten einzurichten. Dafür wirbt sie auch in ihrer Funktion als Sprecherin aller Landesbürgerbeauftragten.
Die Ombudsfrau bei der "Berliner Zeitung" - Karin Stemmler
Von Dorothea Jung
Ärger mit der Agentur für Arbeit, Zwist mit der Versicherung, Streitigkeiten mit einem Hersteller - In Berlin schaltet sich Karin Stemmler ein, wenn zwei Parteien keine Einigung gelingt. Die ausgebildete Journalistin arbeitet bei der Berliner Zeitung.
Stemmler: "Ja, wir sind fertig, du kannst die Seite abschieben. Ich dank Dir schön, mach 's gut, Ciao. - - Das war meine Layouterin; sie hat die Seite fertig gemacht, sie muss jetzt die Bilder reinstellen; aber wir vom Text her, wir sind fertig."
Freitagnachmittag im elten Stock des Verlagsgebäudes der Berliner Zeitung. Karin Stemmler hatte in den letzten Stunden nur wenig Aufmerksamkeit für den spektakulären Blick aus ihrem Arbeitszimmer, der ihr das östliche Zentrum Berlins zu Füßen legt. Denn die Ombudsfrau der Zeitung hatte die ganz normale Meinungsseite des Blattes mit Leserzuschriften und Kommentaren für Samstag zu redigieren - und die Ombuds-Seite für die nächste Woche vorzubereiten.
Stemmler: "Die machen wir am Montag; da haben wir vielleicht ein Hundehalsband, ein Hundehalsband, was elektronisch funktioniert und dem Hund irgendwie über Impulse sagt: "Komm zurück zu Herrchen", und das konnten die Leute aber nicht anwenden, weil schlicht die deutsche Gebrauchsanweisung fehlte."
Die Erfahrung dieses Lesers: Ein Hersteller, der mehr als 300 Euro für ein Hundehalsband verlangt, und dafür noch nicht einmal eine Gebrauchsanweisung auf Deutsch nachliefern will. Und der auch nach langwierigem Schriftverkehr nicht bereit ist, den Verkaufspreis zu erstatten.
Stemmler: "Und das ging jetzt ewig hin und her, und wir mussten uns also einschalten, damit die ihr Geld wiederkriegten.""
Karin Stemmler ist eine stattliche, schlanke Frau von 51 Jahren. Eine gepflegte Erscheinung mit Glencheck-Hose und Weste in Beige und Braun; das blonde Haar im Nacken zusammen gebunden. Die Ombudsfrau der Berliner Zeitung strahlt Seriosität, Resolutheit und Sanftmut aus. Genau die richtige Mischung, um sowohl hartnäckig als auch diplomatisch mit Verantwortlichen in Firmen oder Behörden zu verhandeln. Zwar ohne juristische Kompetenz, aber dafür mit dem Druck der öffentlichen Meinung als Beistand.
Stemmler: "Das gängige Geschäft ist: Jemand kriegt sein Arbeitslosengeld II nicht; jemand schafft es nicht, weil die Eltern zerstritten sind, die Unterlagen beizubringen, die nötig sind, um Bafög zu bekommen; - Versicherungen! Da hat sich eben jemand mehr als drei Meter vom Herd entfernt, und wenn dann ein Feuer ausbricht, dann zahlen sie eben nicht. Und dann versuchen wir, etwas Verständnis zu wecken und zu sagen: Vielleicht können wir auf dem Wege der Kulanz etwas machen. Also: Klar, Sie haben Recht, wir würden es auch im Artikel schreiben, aber es wär doch nett, wenn wir hier den alten Menschen helfen, dass sie hier eine neue Küche kriegen oder so."
Am häufigsten wurde die Redaktion bislang gebeten, bei Konflikten mit Telekommunikationsunternehmen zu helfen - doch seit einem Jahr hat die Zeitung entschieden, derartige Fälle an die Regulierungsbehörde weiterzuleiten - damit auch die Politik sich den Zumutungen dieser Branche widmet. Überhaupt sieht sich die Ombudsfrau häufig lediglich in der Rolle einer Wegweiserin für Menschen in Not.
Stemmler: "Da ruft jemand an und erklärt: Hier ist was ganz ganz Schlimmes; dann hör ich 's mir an ; weiß: das ist keine Sache, die es jemals in die Zeitung schaffen würde, aber es gibt Organisationen, die sich drum kümmern; wir haben ein Riesen-Netzwerk von Leuten, die dann helfen können; oder man sagt: Ich kümmer mich selber drum."
Karin Stemmlers beruflicher Werdegang ist eng mit der Berliner Zeitung verknüpft. Noch zu DDR-Zeiten absolvierte sie hier ihr Volontariat. Sie studierte in Leipzig Journalismus und leitete nach der Wende zunächst 13 Jahre lang das Ratgeber-Ressort, bevor sie ihren jetzigen Posten vom ersten Ombudsmann des Blattes übernahm: Das war der ehemalige Regierende Bürgermeister Westberlins, Klaus Schütz. Der renommierte Politiker öffnete der Redaktion der einstigen DDR-Zeitung viele Türen im Westen. Doch heute ist Ombudsfrau Karin Stemmler eine Institution in Berlin. Und die Mutter einer erwachsenen Tochter ist es gern.
Stemmler: "Du beschreibst nicht nur irgendwas, und es ist jetzt egal, ob es in der Zeitung steht oder nicht; sondern du kannst wirklich Leiten damit helfen, und das ist schon 'ne Sache, die auch Befriedigung bringt."