Vom Briefboten zur Ratte der Lüfte

Von Jürgen Stratmann |
Einst hat man sie ins Land geholt, weg aus ihrer angestammten Heimat, den brandungsumtosten Felsenküsten des Mittelmeers, verschleppt, weil man ihre Dienste benötigte, sie als fliegende Boten missbrauchte.
Aus Fels- wurden Brieftauben, doch manche verflog sich im Dienst und fand nicht zurück in den schützenden Schlag, und nistete dann, wie die freien Ahnen zuvor, auf den Klippen der Großstadt, auf Kirchen, Palästen, Bahnhofsfassaden - und aus Brief- wurden Stadttauben, oder:

"Die Ratten der Lüfte!"

Verfemt, verhasst, verfolgt: Gurrendes Gesindel.

Umfrage:
"Ich find´ sie eklig!"
"Total zerruppt, als wär ´n se schon mal durch ´n Ventilator jeflogen..."
"Von ´ner Optik geht es, aber weil sie dann immer gleich in Massen auftreten..."

Flatternde Schnorrer, die wuselnd um Brotkrumen betteln ...

"Das liegt daran, dass soviel gefüttert wird - man sollte es lassen!"

Schon aus hygienischen Gründen:

"Weil sie halt soviel Krankheiten übertragen, und die Fensterbretter voll... ääh, verunreinigen?"

... und weil dem Pack wirklich nichts heilig ist!

"Ick liebe det, wenn sie mir grad mein frisch jewaschenet Auto zuscheißen von A bis Z!"

Ihre ganze Existenz eine einzige Provokation? Wer kennt das nicht? Wenn zum Beispiel so ein gurrender Klops mitten auf dem Radweg immer genau in die Richtung trippelt, in die man radelnd ausweichen will, und immer erst wegflattert, wenn man entschlossen ist, dem müll-gemästeten Bonsai-Broiler das Reifen-Profil ins Kreuz zu stanzen, wenn man dann dasteht, die Fahrradstange zwischen den Beinen, den Lenker vorm Bauch, weil einen die Vollbremsung aus dem Sattel gehauen hat, wer würde da nicht aus tiefstem Herzen wünschen:

"Zum Abschus freigeben!"

Andererseits: Ist der sanfte Vogel nicht ein letzter Rest widerständiger Natur in der entseelten Hektik unserer Wohnwüsten? Sind Begegnungen dieser Art nicht Momente des Innehaltens? Sollte man dafür dankbar sein? Wie mit Tauben umgehen? Es sind vor allem junge Leute, die, unkonventionell, kreativ, frech, wenn auch etwas derb vorleben, das ein Miteinander möglich ist:

"Ej, dat sind doch nur Vögel..."
"Tauben sind lustig..."
"Die kann man so schön treten - man sucht sich ´ne Taube aus, und dann überlegt man: erwischt man sie oder nicht, und meistens fliegen sie weg!"
"Es ist lustig, wenn du Tauben besoffen machst - wir haben uns halt ´ne Flasche Klaren gekauft und ´ne Packung Toast, ha ´m das Toast getränkt mit Alkohol, ..."

...und dann festgestellt, dass Tauben nicht sonderlich trinkfest sind - zugegeben: plumpe Versuche simpler Gemüter, aber doch vielleicht Versuche, ein Miteinander zu gestalten, miteinander zu feiern, miteinander zu raufen, Zeit miteinander zu verbringen - vielleicht ein Anfang?