Vom Auftragsschreiber zum Schriftsteller

Für die Anthologie "Eine Bagatelle" hat Herausgeber Thomas Grob elf Erzählungen Tschechows ausgewählt, unter ihnen so berühmte wie "Agafja" - eine der ersten Geschichten, die der russische Schriftsteller unter eigenem Namen veröffentlichte.
Anton P. Tschechow war Arzt, behandelte die Bauern aber meist unentgeltlich. Seinen Eltern, Brüdern und Schwestern half er durchs Schreiben aus tiefstem Elend. An keiner seiner zahlreichen kurzen Erzählungen humoristischer Art saß er offenbar länger als 24 Stunden. Dennoch wurden 1886 die Kritiker auf den damals 26-Jährigen aufmerksam. Die Honorare stiegen, die Familie zog in immer bessere Viertel Moskaus um.

1886 erhielt Tschechow von dem Schriftsteller Dmitri Grigorowitsch den Rat, sein Talent nicht zu verschleudern. Lieber langsamer produzieren und auch mal hungern, empfahl der damals berühmte Kollege, um dann in "glücklichen Stunden der Inspiration" ein "reifes, abgerundetes Werk" verfassen zu können. Tschechow war beglückt über die Anerkennung, den Rat aber befolgte er nicht. Er wurde zum berühmten Schriftsteller und Dramatiker und starb 18 Jahre später, mit nur 44 Jahren, an Tuberkulose in Badenweiler.

Die enorme Produktivität des kurzen Lebens lässt sich an der von Peter Urban betreuten Werkausgabe bei Diogenes ablesen: Das erzählende Werk allein umfasst elf Bände. Zum 150. Geburtstag des Klassikers hat Thomas Grob elf "Erzählungen von Liebe, Glück und Geld" für die Anthologie "Eine Bagatelle" ausgewählt, unter ihnen so berühmte wie "Agafja" – eine der ersten Geschichten, die Tschechow unter eigenem Namen veröffentlichte – und "Wolodja der Große und Wolodja der Kleine". Mehrheitlich entstanden sie in den 1880er- und 1890er-Jahren, als Tschechow, so schreibt der Slawist Grob im Nachwort, vom Auftragsschreiber zum Schriftsteller wurde und seine erzählerischen Mittel erweiterte. Er entdeckte die Trauer, die Sehnsucht und die Kunst der Auslassung, ohne deshalb von Ironie und Humor zu lassen.

Einen großen Roman hat Tschechow zeitlebens nicht geschrieben. Seinem Ruhm tut es keinen Abbruch. In Russland ehrt man ihn gleich an mehreren Orten. Die Essayistin Janet Malcolm hat die Tschechow-Museen in Oreanda bei Jalta, in Petersburg und Moskau auf einer "literarischen Pilgerreise" besucht. Weil die Mitarbeiterin des Magazins "The New Yorker" kein Russisch spricht, spielen ihre Führerinnen Sonja, Nina und Nelly in dem Buch "Tschechow lesen" eine irritierend große Rolle.

Doch Sonja, Nina und Nelly weichen nach zwei, drei Seiten Tschechows Figuren Olga, Anna und Agafja, und der verschwundene und wieder aufgetauchte Koffer der literarischen Pilgerin führt Malcolm schnurstracks zu dem Geheimnis bei Tschechow. Staunend liest man diese rüden Übergänge. Malcolm behandelt Menschen und Ereignisse der Gegenwart wie Figuren und Handlungen bei Tschechow. Ohne Umständlichkeiten und klug raffend fragt sie nach der Modernität des Klassikers und seiner Themen, nach seinem Frauenbild und Charakter, seinen Anfängen und dem Ende, das jede Biografie anders ausschmückt.

"Tschechow lesen" ist von Anna und Henning Ritter zuweilen etwas umständlich, an mehreren Stellen auch schlicht falsch übersetzt ("torpid" bedeutet nicht hinreißend, sondern träge, apathisch). Die Irritation über solche Stellen sollte aber nicht abhalten von der Lektüre dieser ansonsten souverän leichthändigen Einführung in Leben und Werk. Denn Malcolm gibt furchtlos knappe Antworten auf große Fragen und macht Lust aufs Weiterdenken und Nachlesen.

Besprochen von Jörg Plath

Anton P. Tschechow: Eine Bagatelle
Erzählungen von Liebe, Glück und Geld
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg und Dorothea Trottenberg
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010
128 Seiten, 10,00 Euro

Janet Malcolm: Tschechow lesen
Eine literarische Reise
Aus dem Amerikanischen von Anna und Henning Ritter
Berlin Verlag, Berlin 2010
204 Seiten, 19,90 Euro