Vom Armenhaus ins Ungewisse

07.09.2010
Der amerikanische Traum erfüllte sich nur für die Wenigsten: Zwischen 1880 und 1910 wanderten Hunderttausende aus Galizien in die USA aus. Martin Pollack schildert die Schicksale der Auswanderer im vermeintlichen Paradies des Wohlstands.
Wie entstehen Völkerwanderungen? Der Oberösterreicher Martin Pollack, Jahrgang 1944, Slawist, Osteuropa-Historiker und lange Jahre "Spiegel"-Redakteur, erklärt diese bedrängend aktuelle Frage anhand eines gut dokumentierten historischen Beispiels: der großen Flucht von Juden, Slowaken, Polen und Ruthenen aus Galizien und der Bukowina. In den drei Jahrzehnten zwischen 1880 und 1910 wanderten diese Volksgruppen zu Hunderttausenden nach Amerika aus. Pollack zeigt, wodurch diese Wanderungsbewegung ausgelöst, und wie sie organisiert wurde, welche Faktoren sie behinderten, wie und warum sie schließlich zum Erliegen kam. Parallelen zur Gegenwart springen dabei ins Auge.

Es ist eine Wechselwirkung aus "push & pull", die Martin Pollack als Auslöser der Dynamik des großen Exodus aus Osteuropa benennt. Den Kräften der Verdrängung und Vertreibung antworten Kräfte der Anziehung und Anlockung, gemeinsam setzen diese Kräfte die Mobilisierung großer Menschenmassen in Gang: In der Hoffnung, der Armut, Rückständigkeit, Arbeits- und Chancenlosigkeit daheim zu entfliehen, entschließen sich Menschen, ein besseres Leben anderswo zu suchen – in Amerika, das ihnen als überseeisches Paradies des Wohlstands und freier Aufstiegschancen für jedermann beschrieben wird.

Das Kronland Galizien galt als Armenhaus, als der rückständigste Teil der Habsburger-Monarchie. Die sprichwörtlichen "galizischen Zustände" heißen Massenelend, Misswirtschaft, Behördenwillkür und Korruption. Verarmte Bauern können von ihren winzigen Landwirtschaften nicht mehr leben, Tagelöhner, kleine Händler und Handwerker verelenden, hinzu kommen Missernten, Hungersnöte, Epidemien und zunehmender Judenhass.

Als im benachbarten Russland Juden vor blutigen Pogromen in den Westen fliehen, geraten auch die Armen Galiziens in Bewegung. Man kann diesen unwissenden Menschen, die meisten von ihnen Analphabeten, alles einreden: dass die Freiheitsstatue in New York die Jungfrau Maria darstellt; dass der Kaiser von Amerika Arbeitsmigranten aus Osteuropa ruft, um sie als Untertanen in seinem Reich aufzunehmen; dass auf sie Grund und Boden und ein schönes Haus warten.

Skrupellose Schlepper, Auswanderungsagenten und Menschenhändler machen sich die Unwissenheit der Emigranten zunutze. Mit falschen Versprechungen, Drohungen und sogar Gewalt schlagen sie aus den Ärmsten der Armen ihren Profit und quetschen sie wie Vieh in die Auswandererschiffe. Ahnungslose junge Mädchen werden als Prostituierte an Bordelle in Istanbul, New York oder Buenos Aires verkauft. Viele Details zu solch kriminellen Machenschaften liefert dem Autor ein Massenprozess, den die galizischen Behörden 1889 gegen die verbrecherischen Agenten der großen Schiffsreedereien und ihre korrupten Hintermänner führten.

Mit großem journalistischem Geschick macht Martin Pollack seine gründlich recherchierten historischen Tatbestände lebendig und anschaulich. Er folgt den Schicksalen einzelner Auswanderer, beschreibt ihren Leidensweg und das harte Leben, das sie als Arbeitssklaven in Übersee, beim Eisenbahnbau und in den Kohlegruben und Stahlwerken von Pennsylvania erwartete. Pollacks Darstellung ist erhellend, sachlich und doch voll verhaltener Empathie für die ewigen Verlierer. Sie liest sich glänzend.

Rezensentin: Sigrid Löffler

Martin Pollack: "Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien"
Zsolnay Verlag, Wien 2010. 285 S., Euro 19,90