Vom Anderssein dort oben

03.08.2010
Autorin Melanie Mühl mag sowohl die Berge als auch das Meer. Eine Kombination, die allgemein als paradox gilt. In acht Reportagen nimmt sie ihre Leser mit auf eine spannende Reise in die Gebirgswelt. Kenntnisreich und unterhaltsam erzählt sie von Bergbauern und Jägern, Alplandwirtinnen und Ingenieuren, Rettungshelfern und Braunbären.
Grob gesprochen, teilt sich die Menschheit in zwei Lager: Die einen lieben die Berge, die anderen das Meer. Manche bedrückt es, wenn die Berge ihnen den Blick in die Weite verstellen. Andere vermissen beim Strandspaziergang Orientierungspunkte am Horizont. Melanie Mühl gehört beiden an, wobei ihr als Kind die Ferien in den Dolomiten nur ein Gräuel waren. Mittlerweile hat sich ihr damaliger Widerstand in eine Art magische Attraktion verwandelt, und wie alle Konvertiten ist sie dem Faszinosum des einstmals Fremden erlegen.

In acht Reportagen nimmt die 1976 geborene Flachlandbewohnerin ihre Leser mit auf eine spannende Reise in die Gebirgswelt. Kenntnisreich und unterhaltsam erzählt sie von Bergbauern und Jägern, Alplandwirtinnen und Ingenieuren, Rettungshelfern und Braunbären. Man lernt Menschen kennen, die im Gebirge der Natur als Herausforderung begegnen, nicht um sie zu besiegen, sondern um sich ihr auf eigentümliche Weise zu unterwerfen.

Präzise recherchierend, befragt sie auf ihren Touren durch die Schweizer Berge die Wehrlis etwa, die aus der Züricher Alternativszene stammen, wo es vor 30 Jahren schick war, auf die Alp zu gehen. Bis heute bewirtschaften sie einen abgelegenen Hof im kargen Bieler Jura und wollen niemals wieder in die Stadt zurück. Sie berichtet von der Gemeinde Randa nahe Zermatt und wie man dort dem Klimawandel begegnet Das unselige Werk von Beschneiungsanlagen lässt sie genauso wenig aus wie den aberwitzig geführten Kampf gegen schmelzende Gletscher. Hinter dem Bergführer Marco Salis besteigt sie, obwohl keinesfalls schwindelfrei, die Diavolezza im Oberengadin und betrachtet die fahrlässigen Ausflüge von Freizeitkletterern.

Ihre besondere Sympathie gehört den Jauchs in der Einöde von Golzern im Maderanertal, wo man während des Winters monatelang von der Welt abgeschnitten ist, sich um den anderen kümmert, weil man allein verloren wäre. Mühl erzählt, wie anders man in den Bergen anders lebt, welche Rolle das Gottvertrauen spielt – und: Man liebt dort auch anders. Geradezu berückt ist sie von dem "wohligen Gefühl, dass der Mensch neben einem jede Schwäche durchschaut und trotzdem bleibt". Allerdings, auch das verhehlt sie nicht, scheitern an dieser Last auch manche Beziehungen. Manche kommen nicht damit zurecht, ständig für den anderen verantwortlich zu sein.
Auch wenn die Autorin ihre Passion für die Berge nirgendwo verbirgt, entwirft sie alles andere als eine Postkartenidylle. Ihre Geschichten haben nichts Anheimelndes, keine Romantik ist im Spiel, wenn sie den harten Alltag auf 2000 Metern Höhe beschreibt, zwischen haushohen Schneewehen und Geröllfeldern, die zur lebensgefährlichen Rutschpartie werden. Melanie Mühl bleibt in ihrer präzisen Schilderung der Archaik des Lebens in den Alpen respektvoll und angenehm auf Distanz.

Gedacht ist das Buch vor allem für Städter, die das Gebirge aus der Ferne bestenfalls als gut markierten Freizeitpark kennen. Und wer bisher das Meer den Bergen vorgezogen hat, der versteht jedenfalls nach der Lektüre besser, warum.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Melanie Mühl: "Menschen am Berg", Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2010, 128 Seiten, 14,90 Euro