Voluntourismus in Tirol

Die Sennerin ruft

09:25 Minuten
Auf einer Alm mäht eine Gruppe von Touristen mit Sensen eine Wiese.
Die "Schule der Alm" in Tirol: "80 Prozent Frauen, 20 Prozent Männer, 100 Prozent Deutsche". © Deutschlandradio / Eren Önsöz
Von Eren Önsöz · 09.10.2021
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Auf ihrer Alm bilden Helga und Werner in Sommerkursen "Almschüler" aus. Touristen, die anpacken und die Kultur der Bergbauern kennenlernen wollen: mähen, melken, Zäune bauen. Schweißtreibend, aber ein umwerfendes Erlebnis, hat Eren Önsöz festgestellt.
Helgas Alm liegt im wunderschönen Valsertal, südlich von Innsbruck, Naturschutzgebiet seit den 1940er-Jahren. Hier findet der Grundkurs der "Schule der Alm" statt, den ich als Lehrling besucht habe. Und es ging gleich abenteuerlich los: Die Brücke über den Fluss war weg. Fortgerissen vom Unwetter. Nur über eine Behelfsbrücke konnten wir zu Helga. Erste Lektion: Das Bergleben ist kein Zuckerschlecken!
"So, guten Morgen. Herzlich willkommen auf der Nockeralm, im sicheren Bereich", begrüßt uns Helga. "Es wird jetzt schön und wir können hoffentlich viel mahen, viel Zäune machen, viel Heu machen und das ist das Wichtigste!"
Es gibt nicht mehr viele wie Helga. Bergbauern sterben ohnehin aus, weil die mühsame Arbeit kaum entlohnt wird. Außerdem hält sie Ziegen, die als "Kuh des armen Mannes" verpönt sind. Dabei sind ihre Ziegen nicht nur lieb und schmusig und bekommen bestes Bio-Bergheu. Aus der Milch zaubert Helga auch einen exzellenten Frischkäse.
"Seit ich ohne Sessel melke, brauch ich kein Yoga mehr", sagt Helga in breitem Dialekt. "Es sind die gleichen Stellungen, die man beim Yoga macht. Man muss genauso wendig sein. Und wenn du auf dem Sessel sitzt, bist du nicht wendig."

Im Sommer Bergbäuerin, im Winter Sommelière

Helga ist ein Powerpaket. Ihre Wangen glühen, sie ist klein und drahtig und ich habe sie nicht einmal im Ruhezustand erlebt. Im Sommer bewirtschaftet sie die Alm ihrer Vorfahren. Im Winter ist sie Sommelière, also Weinexpertin, in einem Nobelhotel. Aber vor sechs Jahren wollte sie hinschmeißen. Denn die Almarbeit, die früher Großfamilien verrichtet haben, ist alleine nicht zu schaffen. Doch dann hatte sie mit ihrem Freund Werner Kräutler die Idee zur 'Schule der Alm'. Freiwilliger Arbeitseinsatz im Urlaub.
"Auf der einen Seite sagen die Leute, ja, seid ihr wahnsinnig? Die zahlen dafür, dass sie arbeiten dürfen", sagt Werner. "Aber darum geht es ja eigentlich. Sie zahlen dafür, dass sie etwas erlernen, sei es Sensensmähen, Zäune bauen etc., aber auch erlernen, worum es eigentlich geht bei der Berglandwirtschaft."
Eine Ziege legt ihren Kopf auf die Schulter eines älteren, grauhaarigen Mannes mit Vollbart und roter Brille.
Der pensionierte Journalist Werner Kräutler betreibt den Blog "Tirol isch toll".© Deutschlandradio / Eren Önsöz
Werner, unser Klassenlehrer, ist ein Unikat. Er trägt stets einen Filzhut, rote Brille und Hosenträger. Ein pensionierter Journalist, Blogger, Pilgerer. Ich bin durch seinen Blog 'Tirol isch toll' erst auf die Almschule aufmerksam geworden.

80 Prozent Frauen, 20 Prozent Männer, 100 Prozent Deutsche

Laut Werners Analyse sind die, die hierherkommen, zu 80 Prozent Frauen, zu 20 Prozent Männer - und zu 100 Prozent Deutsche. Und die wollen wie Lehrerin Anja nicht chillen, sondern anpacken.
"Ich vermisse es, körperlich zu arbeiten", sagt Anja. "Abends erschöpft zu sein und zu sagen, ja, aber es war gut. Zufrieden. Man hat was geschafft. Deswegen wollte ich Almsommer schon immer mal machen, jetzt mache ich drei Tage Almsommer."
Seit sechs Jahren werden bei Helga und Werner Almschüler ausgebildet. Die "Schule der Alm" ist ein Verein, der ohne öffentliche Gelder arbeitet. Mit dem Ziel, Freiwillige zu gewinnen, die immer wieder in der Alpenregion helfen.
Der Tag beginnt immer mit einem Schluck Ziegenmilch zur Stärkung. Dann geht’s von der Hütte hinauf auf die Bergmahd, die sehr steile Bergwiese, die nur händisch gemäht werden kann. Das Gras muss nass sein und am besten um fünf Uhr in der Früh. Das haben wir nicht geschafft, aber Lois, unser Sensenlehrer, hatte Nachsehen mit uns.
"Jeder bekommt eine Sense und einen Wetzkumpf. Sollte Wasser drin sein. Mit dem Nasstein hat man gute feine Schneide, aber so weit sind wir noch nicht", sagt er.
Ein Wetzkumpf ist der Behälter für den Wetzstein. Der hängt an der Hüfte wie ein Colt und man wetzt so oft es geht. 'Gedengelt' hatte Lois schon, also die Schneide geglättet. Dann das Highlight für jeden Almschüler: Endlich durften wir sensen, locker im Halbkreis aus der Hüfte raus. Bei Ulrike sah es schon super aus:
"Tolle Bewegung", sagt sie und lacht. "Ich lass laufen, lass die Sense laufen!"

Eine Wertschätzung für die Arbeit der Bergbauern

Schweißtreibend ist diese Arbeit schon. Dafür war später unsere Jause auf der wunderschönen Bergwiese mit Panoramablick ins Valsertal umso toller. Danach haben wir alle erstmal ein Nickerchen gemacht.
Das traditionelle Wissen der Bergbauern soll nicht verloren gehen, auch darum geht es in der "Schule der Alm". Etwa wie man einen Schrägzaun baut: Dabei werden die frisch gespaltenen Hölzer einfach ineinander gesteckt. Ohne Nagel - das ist Nachhaltigkeit.
Männer mit Werkzeug bearbeiten Holzbretter, die an die Wand einer Berghütte gelehnt sind.
Das alte Wissen der Bergbauern weitergeben: Bei ihrem Einsatz lernen die Almschüler auch, wie man Dachschindeln herstellt.© Deutschlandradio / Eren Önsöz
Für die Kleinbauern ist es auch wichtig, über solche Projekte Wertschätzung für ihre Arbeit zu erfahren. Der Landwirt und Förster Siggi hat mit uns Dachschindeln aus Lerchenholz hergestellt und uns nebenbei die Philosophie der Almschule erklärt:
"Ganz wichtig ist, dass wir es mit Freude machen. Freude ist die größte Motivation, dass wir hier als eure Almlehrer stehen, um euch dieses alte Wissen weiterzugeben. Damit ihr einen Einblick bekommt in dieses alte Wissen unserer Vorfahren, wie kundig die mit der Natur waren."

Am Schluss gibt es Zeugnisse

Für mich war die wichtigste Lektion, dass eine Bergmahd eine Kulturlandschaft ist. Das haben uns unsere Lehrer eingebläut. Eine Bergwiese ist nicht nur hübsch anzusehen, sondern erfüllt wichtige Funktionen. Sie bietet Schutz vor Lawinen, sie gibt mehr Sauerstoff ab als der Wald und kann mehr Wasser speichern als Waldboden. Sie ist Lebensraum für Pflanzen und Tiere.
Das frühe Aufstehen in den Ferien hat sich jedenfalls absolut gelohnt. Auch wenn wir Lehrlinge uns oft 'deppert' angestellt haben, haben wir zum Schluss sogar Zeugnisse bekommen – und wurden alle versetzt. Musterschüler Tom ist pensionierter Polizist aus Kiel. Er spricht aus, was wir alle dachten:
"Ich glaube, ich war nicht zum letzten Mal hier."
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