Voltaire auf Arabisch

Von Thilo Guschas |
Als im vergangenen Jahr der "Zentralrat der Ex-Muslime" gegründet wurde, war das Presseecho enorm. Mit der Parole "Wir haben abgeschworen" verkündeten die Aktivisten, dass sie aus dem Islam ausgetreten seien. Abfall vom Glauben gilt im Islam als verboten. Kritik an den sogenannten "Ex-Muslimen" kommt nun von überraschender Seite: Vom "Forum der arabischen Atheisten", das sich ebenfalls zum Austritt vom Islam bekennt – und dabei einen gänzlich anderen Ansatz wählt.
Mina Ahadi: "Schon seit einem Jahr haben wir eine Organisation 'Zentralrat der Ex-Muslime'. Das ist eine gefährliche Arbeit. Denn theoretisch ist es im Islam so: Man wird als Muslim geboren, man ist Muslim – man bleibt immer Muslim."

Mina Ahadi vom "Zentralrat der Ex-Muslime". Eine Gruppe, deren Mitglieder sich öffentlich bekennen, dass sie vom Islam abgefallen seien. Ein kalkulierter Tabubruch, der große Wellen geschlagen hat. Bislang unbekannt dagegen ist das "Das Forum der arabischen Atheisten". Ein Internetprojekt, das sich scharf von den "Ex-Muslimen" abgrenzt. Statt um Polemik geht es dort um Wissen. Im Diskussionsforum werden alle möglichen Themen debattiert – aus dem Blickwinkel arabischer Atheisten.

Mohamed: "Wissenschaft, Theologie, Computer, Science, Medizin... hier ist Philosophie, Politik. Dieses Fach ist für Kunst. Die Idee ist: Die Welt heute denkt, die arabische Welt exportiert nur Terrorismus, Fundamentalismus – aber es gibt so viele Atheisten in der arabischen Welt! Sie sind in einer sehr schlechten Situation. Sie können ihre Ideen nicht erklären. Sie haben keine Rechte. Wir haben dieses Forum gegründet. Wir sind hier, um zu sagen: Wir wollen nur leben. Außerdem wollen wir mit den Muslimen diskutieren."

Die Bühne der "Ex-Muslime" ist die deutsche Öffentlichkeit. Das "Forum der arabischen Atheisten" dagegen operiert weltweit – allerdings in arabischer Sprache. Die Betreiber der Seite sind über mehrere Länder verteilt. Mohamed ist einer von ihnen in Deutschland. Über Internet-Telefonie versucht er den derzeitigen Präsidenten des Projekts zu erreichen – vergeblich.

Mina Ahadi: "Vielleicht tut es nicht weh, wenn ich zuhause vergewaltigt werde, weil ich Muslim bin oder schwarze Haare habe. Wir mussten immer wieder erklären, wir sind Leute, Menschen, gucken Sie mich an, ich bin auch so wie Sie. Wenn ich zuhause erniedrigt werde, das tut weh. Ob ich Muslim bin oder Nicht-Muslim, das ist egal. Ich bin ein Mensch. Wenn ich geschlagen werde, das tut weh. Ich will mit jemandem schlafen, den ich möchte, nicht mein Vater. Oder mein Bruder."

Mohamed: "Wir haben einen Konflikt mit den 'Ex-Muslimen'. Weil die Ex-Muslime gegen den Islam sind – wir sind nicht gegen den Islam. Wir wollen nur in Ruhe leben. Ex-Muslime, das ist die andere Seite, der andere Fundamentalismus. Das ist nicht gut, wenn ich sage 'Da, der Islam...' Nein, Islam ist kein Mensch! Islam ist ein Begriff, das ist eine Idee."

Mina Ahadi: "Diese Möglichkeit, dass die Menschen von einer Religion austreten, ist ein Menschenrecht, wir haben das gesagt, wir sind nicht mehr Muslime, wir haben fast mit unserem Leben gespielt, das ist nicht in Ordnung, das muss kritisiert werden und das muss auch ernst genommen werden. Aber das ist eine gefährliche Arbeit."

Mohamed: "Das ist Propaganda. Hier in Deutschland, warum hat Mina Angst? Ich kann das nicht verstehen, hier in Deutschland. Warum?"

Ganz konsequent ist Mohamed in seiner Kritik nicht. Er wirft Mina Ahadi vor, ihre Angst sei übertrieben. Doch er selber will nur mit Vornamen genannt werden. Mohameds eigentliche Kritik betrifft den provokativen Stil der "Ex-Muslime". Deren öffentlicher Streit mit den Islamverbänden führe zu nichts. Mohamed ist überzeugt: Viel eher sollte man mit den Muslimen diskutieren.

Mohamed: "Ich habe so viele Artikel geschrieben im Forum. Mein Favorit ist Koran. Im Koran findet man alles. Krieg, Blut, Freiheit, Frieden, alles. Das ist wie ein Gedicht, man muss imaginieren. Gott meint entweder das oder das. Ich habe Plato gelesen, und danach habe ich die deutsche Philosophie gelesen, Hegel, Karl Marx, Feuerbach. Nach Karl Marx gibt es keine Religion mehr."

Endlich steht die Telefonleitung. Ein Iraker, der in den Niederlanden im Exil lebt.

Anrufer Eins: "Wenn wir Atheisten mit den Muslimen diskutieren, müssen wir parieren können. Daher liest man sich viel an. Man muss tief eindringen in die Religions- und Philosophiegeschichte. Das öffnet einem wirklich die Augen. Es gibt so viel zu debattieren, über den Glauben und die eigenen, politischen Überzeugungen! Für das alles ist das Internet wirklich ein gutes Medium."

Der Mann am Telefon ist überzeugt: Von ihrer Zahl her sind arabische Atheisten keinesfalls ein Randphänomen.

Anrufer Eins: "Es gibt viele arabische Atheisten, aber ihnen fehlt der Mut. Ich weiß das, weil ich aus dem Irak komme. Dort kannte ich mindestens 20 Leute, die waren Atheisten und Agnostiker, oder standen zumindest der Religion skeptisch gegenüber. Aber im Irak ist es sehr gefährlich, offen zu sagen, dass du Atheist bist oder an Glaubenaussagen zweifelst.""

Mohamed klickt eine Diskussionsseite auf. Auf Arabisch diskutieren Muslime und Atheisten miteinander über "Abrogation", widersprüchliche Textstellen im Koran. Die Atheisten bohren nach: Wenn der Koran Gottes Wort ist – wie kann es dann dort Widersprüche geben? Die muslimischen Teilnehmer fahren ihre Gegenargumente auf. Eine Debatte, die öffentlich so nie stattfinden könnte.

Mahmoud Tawfik: "Araber in den Deutschland. Die meisten, die ich hier kenne, sind Atheisten und haben damit kein Problem."

Mahmoud Tawfik, ein Bekannter von Mohamed. Mahmoud ist selbst kein Atheist – anders als die meisten aus seinem arabischen Freundeskreis.

Mahmoud Tawfik: "Ein Freund von mir zum Beispiel, der ist ganz sicher Atheist, aber er hört sich gern den Koran an. Es kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet."

Wenn man es als Gesetzbuch betrachtet, das ganz strikt befolgt werden muss, ist es natürlich eine Sache, oder wenn man es quasi als Kunstform betrachtet, die kunstvoll rezitiert wird, die durch den Gesang berühren kann, ist es wieder etwas ganz anderes. Ich frage mich, inwiefern Menschen, die sich als Atheisten geben, vielleicht eine subtile Form von Spiritualität haben, wie ich sie von meinen Freunden geschildert habe. Ich bin schon der Meinung, dass es so eine Art Grundbedürfnis gibt, von dem ich vorsichtig bin, es zu benennen, könnte ich auch nicht – das irgendwie gestillt werden muss.

In der Leitung ist ein weiterer Internet-Atheist. Die Verbindung rauscht und quietscht, aber die Botschaft ist schneidend klar.

Anrufer Zwei: "Ich habe in Syrien in einer Computerfirma gearbeitet. Eines Tages hatte ich während der Arbeit die Internetseite unseres Atheisten-Forums geöffnet. Als mein Chef das entdeckte, sagte er zu mir: Du bist also ein Atheist? Du bist entlassen! Es geht gar nicht um das, was die Regierung sagt. Es geht um die Bürger. Sie akzeptieren die Atheisten nicht. Man muss eine Maske tragen und vorgaukeln, man wäre religiös."

Der Anrufer, der zur Zeit in England lebt, beginnt, Voltaire zu zitieren. Das Zitat fällt ihm zunächst nur auf Arabisch ein.

Anrufer Zwei: "Ich liebe, was Voltaire sagte: Ich missbillige Ihre Meinung, aber ich werde dafür kämpfen, dass Sie sie aussprechen können. Für diese Toleranz hat Europa 200, 300 Jahren gebraucht. Dass wir das in der arabischen Welt erreichen, werde ich selbst wahrscheinlich nicht erleben. Aber man muss dafür kämpfen – wir, unsere Freunden und die kommenden Generationen."

Mohamed: "Bis jetzt, in Ägypten, sage ich es nicht einfach. Ich laufe nicht durch die Straße: "ja, ich glaube nicht an Gott". Aber bei meinen Freunden und meiner Familie, da sage ich es. Das hat sehr viele Probleme gebracht. Aber mit der Zeit akzeptieren die Leute es."

Mina Ahadi: "Schluss mit dieser Toleranz gegenüber Intoleranz! Schluss mit Toleranz gegenüber Mördern, die Fatwas verhängen! Die Leute, die so viel Angst ausüben auf der Straße und in unserer Community, weil sie islamische Organisationen sind und den Islam noch mehr verbreiten wollen. Wir haben gesagt, "Wir haben abgeschworen", das ist eine Kampagne so ähnlich wie Wir haben abgetrieben."

Anrufer Eins: ""Konfrontation ist nicht meine Art. Ich will bloß, dass sich Fenster öffnen.""

Mohamed: "Wir hoffen, dass wir in unserem Kampf gegen die Todesstrafe in Saudi-Arabien etwas erreichen können. Wenn wir vor ein europäisches Gericht gehen, glaube ich, können wir etwas bewirken, aber auch das ist nicht einfach – wir bräuchten viele Leute aus Saudi-Arabien, die auch sagen, dass sie dagegen sind. Zurzeit ist das unmöglich."

An guten Tagen besuchen mehr als 10.000 User das Atheisten-Forum. Atheisten wie Muslime, behauptet Mohamed. Vielleicht bewirkt das Forum etwas, und zieht Fäden – im Hintergrund. Auch wenn bislang keine deutsche Zeitung über das Projekt berichtet hat, im Gegensatz zum "Zentralrat der Ex-Muslime". Darauf kommt es aber auch nicht alleine an, ist Mahmoud Tawfik überzeugt.

Mahmoud Tawfik: "Es ist kein Krieg, bei dem der eine über den anderen siegt. Aber jeder hat letzten Endes die Freiheit, so zu leben, wie er möchte, solange er keinem schadet. Ich finde, das ist der Grundgedanke des Projekts, und das finde ich eigentlich sehr nobel."

Internetseite des "Atheisten-Forums": www.el7ad.com