Volles Wahlrecht für Menschen mit Behinderung

Kritik an der Verweigerung eines "fundamentalen Grundrechts"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt am 27.04.2017 in Beverungen (Nordrhein-Westfalen) zu einer Wahlkampf-Veranstaltung zur NRW-Landtagswahl. Merkel unterstützt den CDU-NRW-Spitzenkandidaten Laschet.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Wahlkampf-Veranstaltung in Nordrhein-Westfalen. Bei der Bundestagswahl im Herbst sind rund 85.000 Menschen mit Behinderung ausgeschlossen. Die Behindertenbeauftragten der Länder wollen das jetzt ändern. © dpa/Friso Gentsch
Jürgen Dusel im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.05.2017
Rund 85.000 Menschen dürfen nicht an der Bundestagswahl teilnehmen - obwohl sie volljährig und deutsche Staatsbürger sind. Es sind Behinderte, die in allen Belangen einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen haben. Die Behindertenbeauftragten der Länder wollen das jetzt ändern.
Dieter Kassel: Wer deutscher Staatsbürger und volljährig ist, der oder die darf in der Regel wählen. Bei einigen Wahlen dürfen das auch EU-Ausländer und/oder Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr. Allerdings gibt es auch erwachsene Deutsche, die nicht wählen dürfen. Behinderte, die, so lautet die Definition, in allen Belangen einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen haben. Die dürfen in zwei deutschen Bundesländern, NRW und Schleswig-Holstein, bei Landtagswahlen wählen, aber sie dürfen es zum Beispiel auch dort und in der gesamten Bundesrepublik nicht bei Bundestagswahl. Die Behindertenbeauftragten der Länder wollen das ändern. Einer davon ist Jürgen Dusel, er ist der Landesbeauftragte für Belange Behinderter in Brandenburg. Schönen guten Morgen, Herr Dusel!
Jürgen Dusel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Erklären Sie das doch mal für Laien etwas einfacher: Was heißt diese Definition, "Behinderte, die in allen Belangen einen Betreuer" haben?
Dusel: Das sind Menschen, die in der Tat sehr unterschiedlich sind, aber die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten alleine nicht mehr in der Lage sind und deswegen einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen, der sie unterstützt. Diese Menschen sind gleichwohl noch geschäftsfähig und natürlich handlungsfähig, aber sie bekommen eine Unterstützung. Das ist ein relativ moderner Ansatz. Früher sprach man mal von der Vormundschaft, heute spricht man von der Betreuung, das sind ganz andere Grundsätze. Und diese Gruppe ist sehr heterogen.

Bild von Menschen mit Behinderung "entspricht nicht der Realität"

Kassel: Es sind knapp 85.000 Menschen in Deutschland, die deshalb nicht wählen dürfen. Andererseits gibt es doch auch die sogenannte Behindertenkonvention der Vereinten Nationen, die ist auch für Deutschland bindend. Sagt die nicht eigentlich was anderes?
Dusel: Ja, die sagt in der Tat in Artikel 29, dass Menschen mit Behinderungen natürlich auch ihr demokratisches Grundrecht, zu wählen, ausüben dürfen. Und die Bundesrepublik war 2015 in einem Staatenprüfungsverfahren. Ich war Teil der deutschen Delegation. Und da hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch deutliche Kritik geübt und gesagt, das muss sich in Deutschland auf Bundes-, aber auch auf Landesebene ändern.
Kassel: Sie sind der Beauftragte für die Belange behinderter Menschen in Brandenburg, deshalb werden Sie heute auch in einer Anhörung im Landtag in Potsdam teilnehmen. Brandenburg ist eines der 14 Länder, in denen das noch nicht möglich ist, dass diese gerade erklärte Personengruppe wählen darf. Wenn Sie dafür kämpfen, konkret in Brandenburg, was für Gegenargumente hören Sie? Oder sagen alle nur, das wäre schön, wir sind noch nicht so weit?
Dusel: Nein. Es gibt natürlich Gegenargumente, und ich hab dann manchmal flapsig auch gesagt, das sind eigentlich die Argumente, die man so auch vor 130,140 Jahren gehört hat, als es um die Einführung des Frauenwahlrechts ging. Es geht also um die Argumente, die Personengruppe sei nicht entsprechend qualifiziert, die Gefahr bestünde, dass, wenn Assistenz geleistet wird bei der Wahlausübung, dass da manipuliert werden könnte. Es geht darum, dass man sagt, dass die Menschen erst qualifiziert werden müssten. Und ich glaube, das zeigt ein Bild von Menschen mit Behinderungen, das wirklich nicht der Realität entspricht.

"Der pauschale Ausschluss einer Gruppe widerspricht dem Grundgesetz"

Kassel: Geht das ein bisschen quer durch die Parteien, oder haben Sie eher das Gefühl, so Sie das offen sagen wollen kurz vor so einer Anhörung, da sind manche ein bisschen weiter als andere?
Dusel: Ich kann das auf Bundesebene schon so sagen. Es gibt ein Papier der SPD-Bundestagsfraktion, die wollen das tatsächlich ändern. Und ich wünsche mir, dass die CDU-Fraktion jetzt als Koalitionspartner ein bisschen aktiver wird auf Bundesebene.
Kassel: Ist denn Ihr Plan in Brandenburg und ist Ihr Gemeinschaftsplan mit den entsprechenden Beauftragten der anderen 15 Bundesländer für die Bundesebene das, wenn wir bei dieser Zahl bleiben der 85.000, dass absolut jeder und jede von denen wählen darf, oder sagen auch Sie, es gibt eine Personengruppe, da ist es schwierig?
Dusel: Wir sind schon der Meinung, dass ein pauschaler Ausschluss einer Personengruppe von der Wahl, also das Nichtgewähren von eigentlich einem fundamentalen Grundrecht so nicht geht. Ich glaube, wir müssen dann individuell schauen, aber pauschal ist das, meine ich, nicht zulässig. Das verstößt auch meiner Meinung nach nicht nur gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, sondern auch Artikel 38 des Grundgesetzes spricht da eine ziemlich klare Sprache.
Wissen Sie, wir haben vor wenigen Tagen der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht und auch der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Und darunter waren auch sehr viele Menschen mit schweren Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Ich glaube, wir Deutsche tragen eine besondere Verantwortung, genau hinzugucken, wenn es eben darum geht, Grundrechte zu gewähren oder Grundrechte nicht zu gewähren. Mir ist auch aufgefallen, vor fast 50 Jahren hat Willy Brandt mal gesagt, wir wollen mehr Demokratie wagen. Ich finde, wir sollten jetzt auch endlich mehr Teilhabe wagen.

Dieses Thema sollte in den Koalitionsvertrag

Kassel: Aber was die Bundestagswahl im Herbst angeht, ich meine, es ist ein dickes Brett zu bohren, und wir reden von wenigen Monaten. Es bis dahin zu schaffen, ist nicht realistisch, oder?
Dusel: Das ist sehr sportlich. Auch ich bin da ein bisschen skeptisch, aber es gilt natürlich auch da der Grundsatz "Nach der Wahl ist vor der Wahl", das heißt, man muss dann schauen, wenn es wirklich bis zur Bundestagswahl jetzt nicht gelingen sollte – es wäre immer noch möglich –, dass man dann zumindest schaut, dass man dieses Thema in den Koalitionsvertrag für die nächste Bundesregierung bekommt.
Und es ist natürlich eben nicht nur die Bundesebene, die betroffen ist, sondern es geht auch eben um das Recht, für die Europawahl zu kämpfen, und es geht natürlich, und das ist mein Job als Landesbeauftragter, dafür zu werben, dass eben in Brandenburg, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein, das Wahlrecht gewährt wird. Und wir haben jetzt ja die Wahl in Schleswig-Holstein gehabt – ich habe nicht den Eindruck, dass da die Demokratie Schaden genommen hätte. Und ich glaube, wir werden auch jetzt am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen sehen, dass das durchaus möglich ist.
Kassel: Sagt Jürgen Dusel, der Beauftragte der brandenburgischen Landesregierung für die Belange Behinderter, der sich in Brandenburg mehr oder weniger allein und zusammen mit seinen 15 Kollegen auf Bundesebene dafür einsetzt, dass es diese 85.000 Ausnahmen, über die wir gesprochen haben, bald nicht mehr gibt. Herr Dusel, ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg und danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Dusel: Sehr gern, schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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