Vollendung eines Lebenswerks

Von Lydia Rilling · 07.06.2012
Im Spätsommer 1923 hätte sich Gabriel Fauré (1845-1924) eigentlich zufrieden zurücklehnen und mit Stolz auf sein erfülltes Lebenswerk zurückschauen können. Der 78-Jährige gehörte zu den angesehensten Komponisten Frankreichs und war besonders für seine Lieder und Sakralwerke wie das <em>Requiem</em> berühmt. Am Conservatoire vom Paris hatte er als Lehrer bedeutende Komponisten wie Maurice Ravel, Charles Koechlin oder Nadia Boulanger geprägt und sich als langjähriger Direktor auch um die Modernisierung der ehrwürdigen Institution verdient gemacht. Selbst der französische Staat hatte ihm 1920 mit dem Großen Kreuz der Ehrenlegion seine höchste Auszeichnung verliehen.
Doch bei allem Erreichten ließ ein Vorhaben Fauré keine Ruhe. "Ich habe mich an ein Streichquartett gemacht, ohne Klavier", schrieb er am 9. September 1923 an seine Frau Marie. "Es ist eine Gattung, die Beethoven besonders berühmt gemacht hat, sodass all diejenigen, die nicht Beethoven sind, eine Heidenangst vor ihr haben."

Ähnlich wie sein Lehrer Camille Saint-Saëns wagte sich auch Fauré erst am Ende seines Lebens an das Genre. Zwar hatte er zuvor eine ganze Reihe von bedeutenden Kammermusikwerken komponiert, dabei jedoch nie auf das Klavier verzichtet. "Ich habe niemandem davon erzählt", vertraute er seiner Frau an. "Ich werde nichts sagen, bis ich fast am Ziel, am Ende angelangt bin. Wenn man mich fragt: 'Arbeiten Sie?' antworte ich dreist: 'Nein!' Also behalte es für dich."

Faurés Heimlichkeit rührte vor allem aus seiner Besorgnis, ob seine Kräfte angesichts seines Alters und Gesundheitszustandes noch reichen würden, um das Quartett zu beenden. In der Tat musste er die Arbeit an "diesem Teufel von Quartett" (Brief an seinen Schüler Roger Ducasse vom 6. September 1923) immer wieder wegen Krankheit oder Erschöpfung unterbrechen, bevor er seiner Frau am 12. September 1924 schließlich die Vollendung des Werkes verkünden konnte. Es sollte sich als sein "Schwanengesang" erweisen: nur wenige Tage später erkrankte Fauré an einer doppelten Lungenentzündung und starb am 4. November.

Es ist zweifellos dem hohen Rang des Genres geschuldet, dass Fauré sich gerade mit einem Streichquartett von der Welt verabschieden wollte. Am Ende eines künstlerisch erfüllten Lebens wollte auch er sich in diese große Tradition einreihen. In den musikalischen Diskursen Frankreichs im frühen 20. Jahrhundert galt Kammermusik zudem als Inbegriff einer musique pure jenseits programmatischer oder deskriptiver Elemente. Einer der größten Bewunderer Faurés, Marcel Proust, lässt auch deshalb in seinem Roman À la recherche du temps perdu die Komponistenfigur Vinteuil Kammermusik schreiben.

Faurés Schüler Émile Vuillermoz pries emphatisch die Kraft der Kammermusik, die innersten Geheimnisse der künstlerischen Seele zu enthüllen. Entsprechend wurde auch das posthum uraufgeführte Quartett als innerster Ausdruck von Fauré verstanden. In ihm verbindet er sowohl biografisch als auch musikhistorisch weit voneinander Entferntes miteinander. Für die beiden Hauptthemen des ersten Satzes Allegro moderato greift er auf den ersten Satz seines Violinkonzerts op.14 zurück, an dem er mehr als 40 Jahre zuvor gearbeitet, das er jedoch nie vollendet hatte.

Zudem verschränkt er in den ersten beiden Sätzen mit einem kontrapunktischen Ansatz und einem kadenzmetrischen Satz auch Satztechniken aus verschiedenen musikhistorischen Epochen und vermittelt zwischen romantischer und modaler Harmonik. Am Ende seines Lebens, als die Moderne allerorten Einzug gehalten hatte, schlug Fauré noch einmal einen großen Bogen durch die Epochen und festigte damit seinen eigenen Standpunkt.
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