Voll korrekt

Von Uwe Bork |
Sie erinnern sich noch? An damals? Nein, ich meine jetzt nicht diese gefühlsmäßig mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Zeiten, als 'mann' noch glänzend dastehen konnte, wenn bei der Anrede einer unverheirateten Frau auch nur das selbstgerecht verkleinernde 'Fräulein' unterblieb oder wenn ein Schwarzer dem gaffenden Publikum nicht unbedingt als 'Neger' oder noch Schlimmeres vorgestellt wurde.
Ich meine vielmehr die politisch korrekten Zeiten, in denen Gastarbeiter auf einmal über den kleinen Umweg als 'ausländische Mitbürger' zu 'Menschen mit Migrationshintergrund' mutierten und in denen dem großen 'I' in der Mitte von Worten wie 'ZuhörerInnen', 'KollegInnnen' oder 'PolitikerInnen' eine Innovationskraft zugeschrieben wurde wie vorher allenfalls dem Übergang vom höhlenmännischen Gestammel zur artikulierten Rede.

Behinderte wurden plötzlich zu 'Menschen mit besonderen Bedürfnissen' beschönigt und Kleinwüchsige - fast schon jenseits der Grenze zur Lächerlichkeit – zu 'Vertikal Herausgeforderten'. Doch das war schließlich alles politisch voll korrekt, und wir alle waren schon froh, wenn es uns leidlich gelang, verbale Kollateralschäden auf religiösem, ethnischem, geschlechtlichem oder sonstigem Gebiet zu vermeiden. Sprich: Unserem lieben Nachbarn oder - Verzeihung! - unserer geschätzten Nachbarin nicht mehr als unbedingt nötig auf die so überaus rechtmäßig ausgestreckten Füße zu treten.

Vorbei. Alles vorbei. Natürlich werde ich mich auch weiterhin hüten, meinem türkischen Änderungsschneider an der Ecke die Überlegenheit einer deutschen Leitkultur etwa am Beispiel von Roy Black oder Gotthilf Fischer zu demonstrieren, damit allein ist es aber lange nicht mehr getan. Denn was heißt inzwischen schon 'politisch korrekt'? Wer wirklich auf der Höhe der Zeit sein will, lebt heute 'ethisch korrekt'!

Als zu jeder Tages- und Nachtzeit leuchtende Personifikation eines Gutmenschen hat er nicht nur längst seine Sprache von allen auch nur entfernt möglichen Diffamierungen und Diskriminierungen gesäubert, er kauft auch nur noch ökologisch korrekt ein und achtet darauf, dass sein Hemd nicht von Kinderhänden in irgendwelchen ostasiatischen Sweatshops zusammengeschneidert wurde. Selbstverständlich hat er sein Auto längst gegen eine Netzkarte der öffentlichen Verkehrsbetriebe eingetauscht und sein Erspartes - so es denn überhaupt existiert - liegt natürlich nur bei einer Bank, die garantiert mit keinem Kriegsgewinnler oder sonstigem Ausbeuter ihre Geschäfte macht. Ein Mustermensch fürwahr, wenn wir nur alle so wären!
Wirklich? Würde das unsere Welt tatsächlich besser oder auch nur erträglicher machen?

Von Ausnahmen abgesehen, ist es überraschenderweise nicht etwa so, dass uns die Philosophen und Theologen unterschiedlichster Provenienzen und Epochen mit Ansprüchen konfrontieren würden, die uns gnadenlos überfordern. Ihre Desiderate liegen vielmehr auf der Ebene, auf der auch Immanuel Kant seine ethische Leitlinie gezogen hat. Mit seinem in der Kritik der praktischen Vernunft formulierten 'kategorischen Imperativ' hat er ja für viele Menschen die Goldene Regel par excellence gesetzt: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Der gestrenge Lehrmeister aus Königsberg begehrte damit von seinen Mitmenschen nicht mehr und nicht weniger, als mit Vernunft und gutem Willen zu handeln und ihre Pflicht zu erfüllen.

Ähnliches hatte mehr als zweitausend Jahre zuvor schon der chinesische Denker Konfuzius verlangt, und natürlich auch in Christentum und Judentum finden sich Vorläufer.

Im Gegensatz zu den pessimistischen Postulaten politischer oder ethischer Korrektheit, die den Weltuntergang schon mit jedem falsch entsorgten Teebeutel näherkommen sehen und für die jede gedankenlose Anrede weit mehr als nur eine Gedankenlosigkeit darstellt, geben sich diese knappen und klaren Maximen erstaunlich schlicht. Sie lassen sich befolgen und lähmen nicht. Zudem versprechen sie etwas, was im kaum noch durchschaubaren Regelungsgestrüpp des in jeder Beziehung korrekten Lebens vollkommen verlorengegangen zu sein scheint: Fehlertoleranz.

Moderne Informatiker verstehen darunter die Fähigkeit eines Systems, trotz einzelner Fehler insgesamt korrekt zu funktionieren. Diese Eigenschaft, die für die Verlässlichkeit etwa eines elektronischen Rechners wesentlich ist, dürfte auch für unsere komplexen Gesellschaften immens wichtig sein und gefördert werden müssen. Moderne Katastrophentheoretiker mögen nun zwar dazu tendieren, unserer Welt eine nennenswerte Fehlertoleranz abzusprechen, die Erfahrung bezeugt allerdings eher das Gegenteil.

Ohne ökologischer Zügellosigkeit oder politischer Naivität im geringsten das Wort reden zu wollen, erscheint es daher angebracht, für etwas mehr Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit und für etwas mehr Gelassenheit beim Setzen unserer moralischen Standards zu plädieren. Das mag die Welt zwar nicht unbedingt besser machen, uns selbst aber vielleicht ein wenig zufriedener.

Und das ist doch auch schon etwas...


Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.