Volkszählung mal anders

11.04.2010
Vor zehn Jahren taten sich weltweit Hunderte von Forschern zusammen, um in Tauchgängen, mit Peilsendern und modernsten, molekularbiologischen Methoden herauszufinden, wie es um die Meere steht. Herausgekommen ist dabei u.a. ein Buch mit 250 Abbildungen aus den Tiefen des Ozeans.
Stolz steht der Fischer neben seinem Fang, einem mächtigen Heilbutt. Das Foto stammt aus dem Jahr 1900 und ist in dem Bildband "Schatzkammer Ozean - Volkszählung in den Weltmeeren" zu sehen. Steht der Heilbutt, der heute im Nordatlantik nahezu verschwunden ist, doch exemplarisch für den Zustand der Meere, wie der alarmierende Bericht der Meereskundler beweist. Ihr Wissen beruht auf einem der ehrgeizigsten Forschungsprojekte, das jemals unternommen wurden, dem "Census of Marine Life".

Vor zehn Jahren taten sich weltweit Hunderte von Forschern zusammen, um in Tauchgängen, mit Peilsendern und modernsten, molekularbiologischen Methoden herauszufinden, wie es um die Meere steht. Und es sieht nicht gut aus: Neben dem Heilbutt, sind auch der Thunfisch und der Kabeljau so gut wie verschwunden. Der Bestand an Riesenschildkröten ist nur noch ein trauriger Rest einstiger Größe. Weltweit sinkt die Zahl der Haie dramatisch. Kippen wir unseren Müll weiter ins Meer wie bislang und ziehen Trawler ihre Schleppnetze weiter durch die Ozeane, ist im Jahre 2050 Schluss damit, weil es keinen Speisefisch mehr gibt.

Brauchen wir ein Buch mehr über diese Tragödie? Wie so oft in der Wissenschaft wird es spannend bei den Details. Wenn Umweltpolitiker zerstörte Meeresregionen wieder in einen natürlichen Zustand zurückführen möchten, brauchen sie einen Anhaltspunkt, wie der ausgesehen haben mag. Um die Vergangenheit der Ozeane zu rekonstruieren, durchforsteten die Wissenschaftler des Projektes Klosterarchive, Walfangstatistiken und tausende alter Speisekarten. Im Bildteil des Buches kann man viele Archiv-Raritäten betrachten. Spannend erzählen die Autoren, welche Überraschungen der Blick in die Vergangenheit zu Tage förderte. So weiß man jetzt, dass der Mensch das Meer nicht erst seit der Industrialisierung tiefgreifend verändert. Das Wattenmeer der Nordsee beispielsweise wird bereits seit dem Jahr 1000 übernutzt. Damals begannen Anrainer mit dem Deichbau und verwandelten Meeresboden in Ackerland.

Auch die aktuellen Erhebungen förderten Erstaunliches zutage, vor allem in Bezug auf die Artenvielfalt. Inzwischen halten Biologen es für möglich, dass es bis zu 100 Millionen unentdeckte Lebensformen im Meer geben könnte, nicht nur Mikroorganismen, sondern auch Korallen, Würmer, Schwämme und sogar große Fische. Schönheit und Schutzwürdigkeit des marinen Lebens lässt sich auf den wunderschönen Fotografien betrachten, die das Buch zu einer Augenweide machen: transparent schimmernde Quallen, bizarr geformte Tiefseefische, prachtvoll gefärbte Korallenriffe.

Nur fünf Prozent der Ozeane konnten bislang als erforscht gelten. Nun wurde, wie das Buch eindrucksvoll schildert, das Licht der wissenschaftlichen Erkenntnis in die Tiefen der Ozeane getragen. Ob es den Meeren hilft? Diese Frage wird nicht in Büchern entschieden, auch nicht in der Forschung, sondern in der Politik. Und bei den Nutznießern eines modernen Lebensstils, die alles, jederzeit, überall konsumieren möchten. Je zerstörter die Natur, umso schöner werden die Bücher. Das bleibt als trauriger Nachgeschmack.

Besprochen von Susanne Billig

Darlene Trew Crist, Gail Scowcroft, James Harding: Schatzkammer Ozean - Volkszählung in den Weltmeeren
Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Huber, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010, 245 Seiten, 39,95 €