Volksschauspiele Ötigheim

Ein Leben fürs Theater unter freiem Himmel

05:30 Minuten
Panorama einer großen Freilichtbühne mit einem großen, überdachten Zuschauerraum und einer Burg, die den Schauspielern als Kulisse dient.
Ein beeindruckendes Schauspiel in jeder Hinsicht: Die Freilichtbühne der Volksschauspiele Ötigheim ist die größte ihrer Art in Deutschland. © Volksschauspiele Ötigheim/Jochen Klenk
Von Marie-Dominique Wetzel · 26.06.2021
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Gegründet wurden die Volksschauspiele Ötigheim 1905 in einer Sandgrube. Heute steht dort die größte Freilichtbühne Deutschlands. Das ganze Dorf engagiert sich dafür und das mit Erfolg: Rund 100.000 Besucher kommen jährlich zu den Aufführungen.
Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Das ist immer so, kurz vor einer Aufführung, wie ich später erfahre. Ötigheim hat gut 4000 Einwohnerinnen und Einwohner, fast die Hälfte ist Mitglied im Verein "Volksschauspiele Ötigheim".
Alles begann mit einem theaterbegeisterten Pfarrer. Als Josef Saier 1905 seine erste Pfarrstelle in der kleinen, badischen Gemeinde Ötigheim antrat, gründete er die "Volksschauspiele" und richtete für die Dorfbewohner eine Bühne in einer alten Sandgrube ein.

Die größte Freilichtbühne Deutschlands

Die Bühne ist noch heute am selben Standort, wurde aber immer weiter ausgebaut und ist heute die größte Freilichtbühne Deutschlands - samt See, Burg und mehreren Gebäuden.
Hinter der Bühne, auf dem sogenannten "Tell-Platz", treffe ich dann auch einen guten Teil der Ötigheimer Bevölkerung. Hier sind die Werkstätten und Garderoben – und die Kantine.

Eine Dorfgemeinschaft rund ums Theater

Hier verbringt auch Maximilian Tüg, der geschäftsführende Vorstand, fast jede freie Minute. Er stammt aus einer waschechten Ötigheimer Theaterfamilie:
"Ich bin von Kindesbeinen an dabei. Das erste Mal tatsächlich mit zwei - nein, mit einem Jahr! 1989 habe ich bei Andreas Hofer mitgespielt, bei der Mama auf dem Arm. Dann ist man mitgeschleift worden. Daraus wurden dann die ersten Rollen und solistischen Aufgaben, die ich übernehmen durfte."
Später entschied sich Maximilian Tüg, auch hinter der Bühne Verantwortung zu übernehmen. Fast alles wird beim Verein im Ehrenamt erledigt.
Zusammen eine Inszenierung auf die Bühne zu stellen, mit allem, was dazugehört, das ist für die meisten im Dorf mehr als nur ein Hobby. Viele stecken ihre ganze Freizeit in die Volksschauspiele und verzichten auf ihre Sommerferien, erklärt Tüg:
"Man verbringt den Sommer oft im Familien- und Freundeskreis miteinander. Diese Gemeinschaft, die man dann über so eine lange Zeit auf dem Platz hat, prägt das Ganze prägt und macht es auch besonders."

Profis und Amateure Seite an Seite

Auch Stefan Haufe ist begeistert von dem außergewöhnlichen Engagement der Ötigheimer Bevölkerung. Er hat dort schon oft als freier Regisseur gearbeitet, seit dieser Spielzeit ist er dazuhin noch künstlerischer Betriebsdirektor.
Ihn fasziniert immer wieder, wie viele talentierte Schauspielerinnen und Schauspieler in dieser Gemeinde zu finden sind. Die ganz großen Rollen werden in Ötigheim allerdings oft mit Profis besetzt.
Die Probenarbeit unterscheidet sich für ihn als Regisseur kaum von der Arbeit an einem Stadttheater, erklärt Haufe:
"Die Profis und die Amateure haben sich so schnell gefunden, und die Amateure sind so bereit, von den Profis aufzusaugen. Die Qualität und die Leistungsmöglichkeiten sind ganz enorm. Da vermisse ich eigentlich gar nichts. Ich muss vielleicht etwas mehr anleiten, da wird mir am Stadttheater vielleicht mehr angeboten. Aber das ist ein theaterpädagogischer Vorgang, der Freude macht."

Der Nachwuchs packt mit an

Nachwuchsprobleme kennen die "Volksschauspiele Ötigheim" nicht. Der Kinderchor, das Jugendorchester, die Tanzgruppen, die Fechtabteilung, das Schauspielensemble – alle Sparten sind gut besetzt.
Dieses rege, kulturelle Vereinsleben prägt das ganze Dorf. Für viele ist das Theaterspielen fester Bestandteil ihres Lebens – von Anfang an.
Das ist durchaus auch für einige junge Leute ein Grund, in der Gegend zu bleiben. So wie für die 18-jährige Darstellerin Eva Beckert, die gerade Abitur macht:
"Ich habe früh angefangen, im Ballett zu tanzen, und meine ganzen Freunde auf dem ‚Tell-Platz‘ gefunden. Ich hoffe natürlich, dass ich immer hierbleiben kann, und wenn ich wegziehe, dass es nicht so weit weg ist, dass es immer noch reicht, zu den Volksschauspielen zu fahren."

Eine Vorliebe für große Massenszenen

Ausgewählt werden die jeweiligen Theaterstücke vom Verein selbst. Dafür gibt es mehrere Gremien. Wichtig ist: Es sollten möglichst viele Menschen auf der Bühne sein können.
"Wilhelm Tell" ist übrigens das Lieblingsstück der Ötigheimer. Es stand schon mehrmals auf dem Programm und jeweils waren bis zu 400 Menschen auf der Bühne.
Am besten ist es, wenn dann noch Tiere dazu kommen können: Kühe wie beim Almabtrieb im "Wilhelm Tell" oder Pferde zum Beispiel beim Wagenrennen in "Ben Hur", erklärt Maximilian Tüg:
"Große Massenszenen, Chöre, Musik, Pferde auf der Bühne und viel Statisterie - das kann man, grob gesagt, den Ötigheimer Spielstil nennen."

Eine über hundertjährige Erfolgsgeschichte

Wenn dann an einem lauen Sommerabend bis zu 4000 Besucherinnen und Besucher in den Rängen Platz nehmen, ist ganz Ötigheim stolz auf seine Volksschauspiele.
Die Gründungsidee des Pfarrers, den Dorfbewohnern eine schöne und gemeinschaftsstiftende Freizeitbeschäftigung zu bieten und sie aus den Wirtshäusern fernzuhalten, ist auf jeden Fall voll aufgegangen!
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