Voggenhuber: Regierungen hoffen auf niedrige Wahlbeteiligung

Johannes Voggenhuber im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Der österreichische Grünenpolitiker Johannes Voggenhuber hat den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten vorgeworfen, dass sie an einer niedrigen Beteiligung bei der Europawahl interessiert seien. Es werde mit einer „klammheimlichen Freude“ beobachtet, wenn das Parlament in seiner Legitimation geschwächt bleibe, sagte der scheidende EU-Abgeordnete.
Deutschlandradio Kultur: Nächste Woche, von Donnerstag bis Sonntag, wird in der Europäischen Union ein neues Parlament gewählt. Herr Voggenhuber, wissen Sie denn schon, wem Sie Ihre Stimme geben werden.

Johannes Voggenhuber: Das ist eine seltsame Frage, wenn doch das Wahlgeheimnis gilt. Also, ich bin ein bisschen in einer schwierigen Lage. Ich kandidiere ja nicht mehr nach einer großen Auseinandersetzung mit meiner eigenen Partei. Lassen Sie mir noch ein wenig Zeit, um diese Frage für mich zu klären.

Deutschlandradio Kultur: Ist es so, dass Sie mit den österreichischen Grünen auch inhaltlich im Dissens liegen oder ist es wirklich nur eine persönliche Frage, dass Sie nicht wieder kandidieren?

Johannes Voggenhuber: Nein, das war überhaupt keine persönliche Frage. Es war eine zutiefst politische Frage. Ich habe die Entwicklung meiner Partei seit vielen Jahren kritisiert, auch ihr mangelndes Interesse an Europa. Ich glaube, dass wir trotzdem mit unserer Europapolitik vor einem Durchbruch standen. Es hat da sicherlich persönliche Implikationen des Streits gegeben, aber im Wesentlichen ging es darum, dass man zu Beginn dieser Kandidatenerstellung verkündet hat, der Vertrag von Lissabon sei tot, man müsse die Kritiker mehr und deutlicher ansprechen. Man kann nicht so entschieden für Europa auftreten.

Also, es ging im Wesentlichen um ein Nachgeben unter den öffentlichen Stimmungen, die in Österreich an sich schon einen sehr brisanten Hitzegrad erreicht haben. Dagegen habe ich mich ganz entschieden gewandt, weil eigentlich alle Parteien in diesem Land inzwischen ihr Spiel mit Europa spielen. Und ich dachte, dass die Grünen aufgerufen sind, dem anderen Teil der Bevölkerung, den Europäern, die für die Offenheit des Landes kämpfen, eine Stimme zu geben und nicht auch noch versuchen, sich in dieses opportunistische Spiel einzubringen.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie uns dieses Phänomen in der Alpenrepublik erklären? Österreich macht mehr oder weniger Wahlkampf gegen und nicht für Europa, obwohl Österreich doch in den letzten Jahren deutlich von Europa, von der EU profitiert hat?

Johannes Voggenhuber: Österreich? Ja, seine Wirtschaft, seine Unternehmer haben profitiert, sind zum Teil um das Fünffache gewachsen. Die Frage, die die Bevölkerung da sicher zu recht beschäftigt, ist, was unten angekommen ist. Wenn Sie mich um eine Erklärung fragen, bin ich der tiefen Überzeugung, dass das eigentlich ein großer Kulturschock ist, unter dem dieses Land steht, und dass es um eine missglückte Identitätssuche geht nach 1989, Fall des Eisernen Vorhangs, aber nicht ohne Zufall auch das Jahr des beginnenden Aufstiegs von Jörg Haider. Ein Land, das sich an diesem Unort, in dieser Unzeit in einer Nische des Eisernen Vorhangs – die ganze Welt wollte nichts von uns – an großen Fragen der Zeit nicht beteiligt hat.

Dann hat die Bevölkerung eigentlich über Jahrzehnte diesen skurrilen Ort am Eisernen Vorhang, im Niemandsland Europas als Insel der Seligen betrachtet, was einfach an den Herrn Karl erinnert, diese berühmte Figur der österreichischen Geschichte, der in seinem Keller, in seinem Feinkostladen sitzt und oben die Sirene eines Rettungsautos hört, hinaufblickt und sagt: „Karl, du bist das net.“

Dieses „Karl, du bist es nicht“ sitzt den Österreichern in den Knochen. Und da kommt ein Europa daher, das immer in den Keller ruft: „Karl, du bist es, komm heraus. Beteilige dich, öffne dein Land. Gib uns Antworten auf alle Fragen.“ Das ist ein Kulturschock, um den es hier geht, der von der politischen Rechten mit unerhörtem Instinkt und einer großen Schamlosigkeit und Demagogie missbraucht wird, um genau diese Ängste anzufachen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben nun eine Antwort auf Österreich gegeben. Ähnlich könnte man ja bald jedes Mitgliedsland der EU analysieren und immer wäre das Ergebnis das Gleiche. Es wird Wahlkampf gegen Europa gemacht.

Johannes Voggenhuber: Nicht in dieser Schärfe, nicht in dieser Unbedingtheit. Es ist nicht so, dass alle Parteien in Europa mit diesen Gefühlen spielen. Aber es gibt natürlich auch eine fulminante europäische Vertrauenskrise. Es gibt auch ein Interesse an der geringen Wahlbeteiligung. Die Regierungen, die Staatskanzleien, die nationalen Eliten sehen im Europäischen Parlament zurecht den einzigen Gegenspieler des Rates, der Macht der Regierungen über Europa.
Nun, der Lissabon-Vertrag, wenn er denn zustande kommt, stärkt das Europäische Parlament weiter, macht es zu einem ebenbürtigen Gesetzgeber, macht es zu einer mächtigen Kontrollinstanz, auch über die Kommission, über die der Rat und die Regierungen gerne die alleinige Macht hätten. Da wird es schon mit einer gewissen klammheimlichen Freude beobachtet, wenn dieses Europäische Parlament in seiner Legitimation geschwächt bleibt.

Es ist ja nirgendwo so, dass die Regierungen alarmiert wären durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. In Österreich ist eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent fast undenkbar, ist ein unerhörter Zustand. Und die Regierung tut überhaupt nichts dagegen, ist mitnichten alarmiert. Aus Kenntnis der ganzen Kämpfe der Vergangenheit, des letzten Jahrzehnts weiß ich nur zu gut, dass die Regierungen und manche Großparteien ein fulminantes Interesse daran haben, dass hier nicht ein Parlament mit 60, 70, 80 Prozent Unterstützung in der europäischen Bürgerschaft ausgestattet wird.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir diese geringe Wahlbeteiligung haben, von der Sie ausgehen, bedeutet das in der Konsequenz dann nicht irgendwann auch, dass das gesamte Parlament und das ganze Projekt in eine Legitimationskrise gerät, wenn nur noch 30 oder 25 Prozent der Wahlbeteiligten überhaupt zur Wahl gehen?

Johannes Voggenhuber: Genau darum geht es. Für mich gibt es in der Demokratie wenig Tragischeres, als wenn die Menschen dazu verführt werden, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, sich in ihr eigenes Fleisch zu schneiden. Das Europäische Parlament ist das einzige, das sozusagen in die Gasse des Zorns gerät, das den Bürgern verantwortlich, von ihnen auch zur Verantwortung gezogen werden kann. Das Europäische Parlament dient hier sozusagen als Sündenbock für die Abreaktion des Ärgers, der Frustration und der Enttäuschungen über die EU als Ganzes oder über den Rat oder über die Kommission.

Deutschlandradio Kultur: Wie sieht denn das Gegengift aus?

Johannes Voggenhuber: Das Gegengift besteht darin, dass man versucht das den Menschen klar zu machen: Das ist die einzige direkt gewählte europäische Institution, die die Bürger vertritt. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass dieses Parlament – ob es die soziale Frage ist, ob es ökologische Fragen sind, ob es Friedenspolitik ist, ob es neue Wege in allen möglichen Bereichen gibt, die Frage der Entwicklung der Europäischen Union – hier die Avantgarde ist, dass sie dem Einfluss der Wirtschaft, der Lobbys, der Bürokratien Grenzen setzt. Dass die Bürgerinnen und Bürger Europas damit ihr einziges Instrument haben, direkt am Gang der Dinge in Europa teilzunehmen, darum müssen wir kämpfen.

Die Regierungen haben sich gewehrt im Verfassungsvertrag weitergehende Demokratisierungen und soziale Kompetenzen zu verankern, Kompetenzen, die jetzt bitter fehlen in der Finanzkrise. Das heißt, wer das Europäische Parlament im Stich lässt, lässt sich selber und seine Möglichkeiten an Europa, an Europa teilzunehmen, im Stich.

Deutschlandradio Kultur: Aber so ganz befriedigt mich Ihre Antwort noch nicht. Denn die Bürger könnten ja handeln, wie Sie selbst sagen: Ich hebe mir meine Wahlentscheidung, auch meine kritische Wahlentscheidung noch auf, aber ich gehe in jedem Fall wählen. – Und das tun sie ja nicht.

Johannes Voggenhuber: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich glaube, Sie übersehen ein bisschen den Ernst meiner ersten Antwort. In Österreich sieht man doch deutlich, da wird ein Wahlkampf von knapp vier Wochen geführt. Die Parteien wenden ungefähr ein Drittel der ihnen vom Gesetz aus zugeteilten Wahlkampfkosten auf. Der Rest, zwei Drittel, wandert in die Parteikassen. Das heißt, es gibt eine gewisse politische Strategie, diese Wahlen „down zu graden“, herabzustufen. Und es wird kaum etwas unternommen, um die Bürger an die Urnen zu bringen. Es gibt mächtige Interessen daran, die einen Gefallen daran finden, ein schwaches Parlament auch in den nächsten zehn oder fünf Jahren zu haben.

Deutschlandradio Kultur: Könnte es nicht auch das Problem sein, dass viele Menschen überhaupt nicht das Projekt Europa greifen können. Die Frage, was verbindet Iren mit Portugiesen und Rumänen und die wiederum mit den Luxemburgern, ist doch überhaupt nicht diskutiert worden im Parlament. Die ist doch überhaupt nicht griffig!

Johannes Voggenhuber: Da würden Sie mich natürlich jetzt auch auf die Rolle der Medien in Europa bringen, die schon auch ein kritisches Wort verdient hätten. Es ist halt so, dass die Medien auch zu einem guten Teil noch zu den nationalen Eliten gehören, dass viele Herausgeber von sehr seriösen Zeitungen keine Ahnung haben von Europa, dass die Eliten eigentlich die sind, die noch ein Wissensdefizit über Europa haben. Ich sehe in Hunderten von Veranstaltungen ein hohes Interesse der Bürger. Da kommt auch dazu, dass die Regierungen ja eifersüchtig darüber wachen, dass die europäischen Institutionen keine Rechtsgrundlagen und kein Geld bekommen, sich direkt an die Bürger zu wenden. Das Bild Europas wird ja durch einen großen Zensor – nämlich die Regierungen und die nationalen Parteien – dargestellt. Wir haben ja gar keine Möglichkeit, mit dem Bürger selber eine Auseinandersetzung zu führen. Es gibt ja sofort ein Wutgeheul, wenn die Kommission oder das Parlament sich in nationale Debatten einmischen. Das ging ja so weit, dass wir in der Frage der Ratifikation des Lissabon-Vertrages in Irland ja gar nicht mehr debattieren durften im Parlament, um nicht irgendwelche Reaktionen in Irland hervorzurufen.

Also, man muss das sehr genau studieren und ist gut beraten, mit den Rezepten des Machiavelli umzugehen. Hier gibt es Machtinteressen. Hier gibt es eine Ablehnung der nationalen Eliten gegenüber Europa. Hier gibt es ein Spiel der nationalen Regierungen mit Europa. Europa ist für die unangenehmen Dinge zuständig. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir feststellen müssen, dass viele nationale Regierung Europa nicht mehr wollen.

Deutschlandradio Kultur: Das hört sich immer ein bisschen so an: Schuld sind die anderen. Herr Voggenhuber, Europaparlamentarier – und Sie waren ja viele Jahre im Europaparlament – hätten ja richtig an die Öffentlichkeit gehen können, mehr vielleicht als sie das gemacht haben.

Johannes Voggenhuber: Es gibt ja noch eine europäische Arbeit. Es musste ja noch eine europäische Verfassung entworfen und geschrieben werden. Sie musste verhandelt und verteidigt werden. Sie werden mich da nicht zu einer großen Selbstanklage bringen, auch nicht stellvertretend für das Parlament. Das würde die Sache verharmlosen oder moralisieren.
Was hätte denn das Parlament machen können? Ich sage Ihnen ein Beispiel:

Wir haben die Kommission Santer entlassen wegen nachgewiesen schwerer Unfähigkeiten. Wer hat die Rechnung dafür bezahlt? Das Parlament, mit stark sinkender Wahlbeteiligung. Ich glaube, es macht keinen Sinn, hier an das Parlament zu appellieren, noch und noch mehr zu tun, wo es dazu ja gar keine Rechtsgrundlagen und kein Geld hat. Das Parlament ist eine große Versammlung aller politischen Kräfte in Europa. Es ist die einzige direkt gewählte europäische demokratische Institution. Es hat gezeigt, dass es fähig ist, ein europäisches Interesse herauszubilden und Europa nicht nur zu einem nationalistischen Interessensbasar zu machen, die Kommission zu kontrollieren, den Rat in die Schranken zu weisen, neue Visionen und Horizonte zu eröffnen – denken Sie nur an das soziale Europa.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie es mich noch mal mit einem Kompliment versuchen: Ist es vielleicht das Problem des Europäischen Parlamentes, dass es zu sympathisch ist, dass die Abgeordneten zu sehr Außenpolitiker sind, zu sehr die vorsichtigen Töne haben, die in der Diplomatie und in der Außenpolitik üblich sind, und weniger mit jenen harten Bandagen kämpfen, die in nationalen Parlamenten den Ton angeben?

Johannes Voggenhuber: Es ist wahr. Das Parlament hat sich aus einer diplomatischen Versammlung zu einem streitbaren Parlament entwickelt, allerdings mit moderateren Tönen. Das ist übrigens etwas, was in der nationalen Öffentlichkeit, auch von den Medien, sehr oft eingefordert wird – zu recht finde ich – von den nationalen Parlamenten, die sich viel zu sehr im Parteihader verstricken, als über die Sache diskutieren.

Es ist klar, dass in einem Parlament von 27 Staaten, von 23 Sprachen, in dem viele Begriffe – selbst wenn man sie in der Originalsprache verwendet, selbst wenn sie übersetzt werden – Dinge auslösen können, andere Verständnisse, auf Differenzen stoßen, die man gar nicht unbedingt erklären kann. Umberto Eco hat einen klugen Satz gesagt: „Die Sprache Europas ist die Übersetzung.“ In einem solchen Klima der Annäherung, der sorgfältigen Abwägung aller Interessen spricht man anders als in einem nationalen Parlament, wo Regierungsmehrheit eingeschweißt und geschlossen auf eine Opposition trifft.

Ich weiß im Europäischen Parlament nicht, wie eine Abstimmung ausgeht. Ich weiß aber fast in jedem nationalen Parlament, wie jede Abstimmung ausgeht, wenn ich weiß, wer an der Regierung ist und wer in der Opposition. Fraktionszwang gibt es nicht im Europäischen Parlament. Die Ausschüsse sind öffentlich. Im Europäischen Parlament habe ich zum ersten Mal entdeckt, dass, wer ein Argument hat, eine Chance auf die Mehrheit hat.

Lassen Sie es mich einfach so sagen. Ich bin ja nicht verblendet. Ich war auch 10 Jahre im nationalen Parlament. Ich kenne die nationalen Parlamente Europas. Das Europäische Parlament ist das lebendigste, auch das machtvollste Parlament Europas, das wir je in der Geschichte hatten – trotz noch immer eingeschränkter formaler Rechte.

Und was dort geformt wird, ist ja nicht einfach die Festschreibung von Mehrheitsverhältnissen, sondern das Ringen um ein europäisches Interesse, um europäische Ziele, um ein gemeinsames Recht. Da prügelt man sich nicht nur in der Arena für die Fernsehkameras und jeder Bürger und jede Bürgerin wissen ohnehin, was am Ende herauskommt. Das ist ein offenes Parlament.

Deutschlandradio Kultur: Herr Voggenhuber, Sie sprechen von einem „lebendigen Parlament“. Jetzt haben wir in Amerika einen Regierungswechsel erlebt und plötzlich geht durch dieses ganze amerikanische Land diese Stimmung, „yes, we can“ und das in Zeiten der globalen Krise, der Wirtschaftskrise und auch des Klimawandels. So was kann man sich auch in Europa vorstellen, aber bei den Bürgern kommt es trotzdem nicht an, trotz lebendigen Europäischen Parlament. Warum gelingt das nicht?

Johannes Voggenhuber: Ich bleibe dabei, auch wenn es für Sie schon wie eine tibetanische Gebetsmühle klingt: Ich habe es im Verfassungsprozess kennengelernt, dass die Regierungen, die politische Einigung Europas – nicht die wirtschaftliche, das war ja mehr und weniger entlang einer ökonomischen Zwangslogik entwickelt – ja auch nicht in einer europäisch-gemeinschaftlichen föderalen Weise entwickelt haben. Der Geburtsfehler war der Vertrag von Maastricht, wo am Beginn der politischen Einigung Europas – innere Sicherheit, Außenpolitik, Justiz, Polizei, Bildungspolitik – die Regierungen diese Twilight Zoon der intergouvermentalen Zusammenarbeit errichtet haben. Das heißt, es wurden im Namen Europas Souveränitätsrechte, Politiken, Kompetenzen der Nationalstaaten angeblich nach Europa transferiert, sind dort aber nie angekommen, sondern wurden zwischengelagert in dieser Dunkelzone der Regierungen, die dort Verwaltung, Regierung, Gesetzgeber, Verfassungsgeber in einem waren – ohne Rechenschaft, ohne Parlamente, ohne Öffentlichkeit, ohne Zugang der Bürger. Ja, was soll denn das an Begeisterung erwecken?! Und was soll denn diese dunkle Maschine an „Yes-we-Can-Gefühlen“, an neuen Horizonten eröffnen? Welche politische Führung soll denn dort entstehen? Da mahlen doch nur Räderwerke. Im Konvent gab es die parlamentarische Mehrheit, die ein „Economic Gouvernance“, eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik, gemeinsame soziale Mindeststandards, Eckpunkte eines sozialen Europas verlangt haben. Wir sind am Veto der Regierungen gescheitert.

Ja, wie sollen wir jetzt die Erwartungen der Menschen erfüllen? Europa wird jetzt herausgefordert, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Man verlangt die Sicherung oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze, wegweisende neue Forschung und Techniken. Das alles wird verlangt von 27 Staaten, die bis zu 50 Prozent Staatsquote haben und die Europa gerade ein Prozent davon an Einnahmen vermitteln. Die Regierungschefs müssen mit dem berühmten Klingelbeutel durch Europa gehen, um Geld zu sammeln für die notwendigsten Konjunkturprogramme. Was soll denn hier die Menschen überzeugen?

Deutschlandradio Kultur: Es gibt in den Wahlprogrammen derzeit eine Mode, nämlich das Plebiszit. Wäre das eine Antwort, dem Europagedanken bei der Bevölkerung zu mehr Erfolg zu verhelfen? Oder ist das eine Gegenbewegung? Will man Europa schaden mit Referenden?

Johannes Voggenhuber: Ich glaube, das ist ganz klar. Solange es nationale Referenden sind, kann Europa daran nur scheitern. Fragen Sie 27 Menschen irgendeine Frage, eine Frage ihrer Interessen. Sperren Sie sie in ein Zimmer und sagen, sie dürfen erst wieder raus, wenn sie mit 27 einstimmig geantwortet haben. Das ist schon sehr schwer.

Jetzt machen Sie 27 Volksabstimmungen in 27 nationalen Öffentlichkeiten und müssen dabei nicht eine demokratische Mehrheit, sondern 27 absolute Mehrheiten gewinnen. Dann sagt Ihnen die reine Mathematik, das ist unmöglich. Damit wird Europa erstickt, bewegungslos und es gibt keine denkbare Reform. Selbst die Hausordnung des Paradieses würde in 27 nationalen Volksabstimmungen scheitern.

Also kann diese Frage der demokratischen Legitimation Europas nur über eine europäische Volksabstimmung möglich sein. Es muss klar gemacht werden, dass in Europa ein Dämos existiert – ob es dem deutschen Verfassungsgericht so gefällt oder nicht mit seinem germanischen Volksbegriff. Es geht hier nicht um ein europäisches Volk, es geht hier um eine politische Bürgerschaft, so wie sie im alten Griechenland in der Demokratie eine Rolle gespielt hat, in Rom in der Republik, in den freien Städten Europas über das ganze Mittelalter. Es geht nicht um irgendein ethnisches Volk oder um eine gemeinsame Sprache. Es geht um eine politische Bürgerschaft, die unter einem gemeinsamen Gesetz steht und nach der Vision der Demokratie das Recht hat, sich dieses Gesetz selbst zu geben.

Deutschlandradio Kultur: Aber da hätten wir doch ein Problem. Dann würden doch die Polen und die Deutschen und die Franzosen gemeinsam jede bürgerliche Abstimmung dominieren, weil sie so viele Menschen an die Wahlurnen bringen.

Johannes Voggenhuber: Ja, das würde passieren. Und? Das ist Demokratie! Über mein Leben wird auch von Mehrheiten bestimmt. ich möchte mit vielen, vielen Millionen anderer Menschen einen Raum des Zusammenlebens aus Europa machen, ein politisches Gemeinwesen mit einer republikanischen Ordnung, einen politischen Raum, in dem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger auch über mich bestimmen darf. Ja, das will ich. Wer das Wort von der politischen Einheit Europas in den Mund nimmt, muss sich darüber klar sein, dass das auch hießt: Teilen, Solidarität. Hier könnten wir über den Finanzausgleich und derlei Dinge, über soziale Mindeststandards reden. Es bedeutet gemeinsame Verantwortung. Da könnten wir einmal über eine gemeinsame Verteidigung reden. Und es bedeutet auch ein gemeinsames Gesetz, das die Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger beschließt und dem ich mich füge als Demokrat. Allerdings kann ich dann auch in diesem Raum auch darum kämpfen, dass meine Interessen gewahrt werden.

Ich glaube, der Nationalstaat hat doch seine Ohnmächtigkeit erwiesen. Es ist doch nicht so, dass er meine Interessen noch schützen könnte, meine Werte noch verteidigen kann im Rahmen der Globalisierung rund um die Welt. Der Nationalstaat, der den Nationalismus jetzt anfacht und den Menschen die Scheingeborgenheit ihrer nationalen Identität verspricht, als wären wir noch im 19. Jahrhundert, der ist doch unfähig und untauglich, die Zukunft noch zustande zu bringen.
Deshalb brauchen wir eine europäische Demokratie. Ich habe kein Problem, mich der Mehrheit der Menschen – und die Mehrheiten sind groß, denn wir brauchen in Zukunft die doppelte Mehrheit der Staaten und der Bürger oder einer großen europäischen Volksabstimmung, an der sich alle beteiligen können – zu beugen. Das ist eine Vision, damit habe ich kein Problem.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir das zuspitzen, würden Sie sagen: Nationalstaaten haben keine Perspektive in Europa?

Johannes Voggenhuber: Ich glaube, sie haben eine Perspektive, aber nicht in dieser harten aggressiven ausschließenden Identität. Es wird doch Zeit, wenn wir über die große Zukunft Europas reden, ein wenig daran zu erinnern, dass der Nationalstaat nicht die Vielfalt Europas darstellt, sondern historisch ein gewaltiger Einschmelzungsprozess Europas war. Man hat in Frankreich viele Sprachen gesprochen. Es gab viele selbstverwaltete Städte. Es gab offene Grenzen in Europa – lange vor dem Nationalstaat. Es ist die jüngste Identität Europas, kaum 400 Jahre alt. Es ist die aggressivste Identität Europas. Wir sollten den Nationalstaat zurücknehmen. Wir sollten die Regionen, die Städte und Gemeinden, stärken – Selbstverwaltung in vielen Bereichen, direkte Demokratie in den Städten und Europa.

Das ist eine Vision, von unten und oben diesen hartleibigen aggressiven Nationalstaat, der so unendlich viel angerichtet hat in der europäischen Geschichte, abzulösen durch ein offenes, freies Europa, mit demokratischen Strukturen – unten, wie oben. Die Erfindung – das ist ja eine unerhörte politische und intellektuelle Herausforderung – einer supranationalen Demokratie, der ersten der Geschichte, und gleichzeitig die Stärkung aller Ebenen, in denen die Bürger selbst mitregieren können, das ist eine Vision.

Das ist nicht die Dublette eines Nationalstaates. Ich träume davon, dass sich eine Vision verwirklichen lässt, eine Republik Europa mit offenen Grenzen, eines soften Staates, der es mit mächtigen und selbstbewussten Regionen und Städten zu tun hat.

Deutschlandradio Kultur: Herr Voggenhuber, wann wir der Tag kommen, an dem große Volksparteien in Österreich, Deutschland und anderswo genau diese Themen auf ihren Wahlplakaten haben und nicht mit irgendwelchen allgemeinen Parolen und beispielsweise in Deutschland mit der „Kanzlerin für Europa“ werben?

Johannes Voggenhuber: Wenn die nationalen Eliten selber im Kopf Europa beigetreten sind, wenn sie begreifen, dass der Nationalstaat nicht mehr imstande ist, die Zukunft auszutragen, zu gestalten, zu formen, die Erwartungen der Menschen zu erfüllen. Es geht doch im Augenblick nur mehr darum, Europa als Sonderdeponie für die innenpolitisch ungelösten Probleme, die Konflikte, das eigene Scheitern als Sündenbock zu missbrauchen.

Die entscheidende Frage ist: Gelingt es uns, aus einem Projekt der Eliten eine Res publica, eine Sache von uns allen zu machen? Ich fürchte, das werden die Regierungen nicht tun, sondern das wird gegen ihren Widerstand geschaffen werden müssen. Ich hoffe, dass dieses Bewusstsein von unten entsteht und dass Europa auch von unten entsteht, weil die Menschen darin eine Chance sehen, die Ohnmacht ihrer politischen Systeme zu überwinden und einen neuen Horizont zu eröffnen. Das wird noch eine Weile dauern. Das heißt, wir stehen erst am Beginn einer großen Auseinandersetzung. Aber mit einem muss sie beginnen! Mit der Beteiligung an der Wahl. Da löst der Bürger, die Bürgerin ihren Anspruch ein dabei zu sein, mit zu entscheiden, der Souverän der Union zu sein. – Nicht eine Union der Staatskanzleien, nicht einmal nur der Staaten, sondern eine Union der Bürgerinnen und Bürger, das zu demonstrieren, ist verbunden mit dem Gang zur Wahl.

Deutschlandradio Kultur: Also heißt die Parole doch: „Yes we can.“ Herr Voggenhuber, wir danken ganz herzlich für das Gespräch.

Johannes Voggenhuber: Ich danke Ihnen.