Vogel: Wir haben Schleyer nicht geopfert

Moderation: Matthias Hanselmann |
Dem Schuldeingeständnis von Altkanzler Schmidt im Zusammenhang mit der Ermordung von Arbeitgeberpräsident Schleyer vor 30 Jahren hat der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel widersprochen. Auch der Aussage von Schleyers Witwe, der Staat habe ihren Mann geopfert, stimmte Vogel nicht zu. Es sei mit aller Kraft nach seinem Verbleib gesucht worden.
Matthias Hanselmann: An die Bundesregierung: "Sie werden dafür sorgen, dass alle öffentlichen Fahndungsmaßnahmen unterbleiben, oder wir erschießen Schleyer sofort, ohne dass es zu Verhandlungen kommt. RAF". So lautete das Bekennerschreiben, dass heute vor 30 Jahren in einem VW-Bus in einer Tiefgarage in Köln gefunden wurde. Mit diesem Auto war gegen 17:30 Uhr in Köln der damalige Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von Terroristen der RAF entführt worden. Schleyers Fahrer und drei Polizisten wurden bei dem Überfall erschossen.

Eine fieberhafte Suche nach Schleyer und den Tätern schloss sich an. Helmut Schmidt, damals Bundeskanzler, berief einen Krisenstab ein, der sich schnell auf eine harte Linie einigte, nämlich auf die Forderung der RAF, Gefangene freizulassen, sollte nicht eingegangen werden. Trotz aller Bemühungen wird Hanns Martin Schleyer nicht befreit, sondern am 19. Oktober 1977 tot aufgefunden, von den RAF-Terroristen ermordet. Auf die Entführung Schleyers reagierte Helmut Schmidt damals wie folgt:

"Die Nachricht von dem Mordanschlag auf Hanns Martin Schleyer und die ihn begleitenden Beamten und Mitarbeiter hat mit tief getroffen; Nicht anders als die Nachricht, die erst wenige Wochen zurückliegt, vom Mord an Jürgen Ponto; nicht anders als die Morde an Buback, Wurster und Göbel. Während ich hier spreche, hören irgendwo sicher auch die schuldigen Täter zu. Der Terrorismus hat auf die Dauer keine Chance, denn gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes."

Justizminister der Bundesrepublik Deutschland war zu dieser Zeit Hans-Jochen Vogel, mit dem wir jetzt sprechen. Guten Tag, Herr Vogel.

Hans-Jochen Vogel: Guten Tag, Herr Hanselmann.

Hanselmann: Wie ist denn Ihre ganz konkrete Erinnerung an diesen Tag, an diesen 5. September 1977?

Vogel: Meine konkrete Erinnerung ist sehr stark, denn ich war zu dieser Zeit im Bundeskanzleramt im Gespräch mit Helmut Schmidt und mit Hans-Jürgen Wischnewski. Als dann die Eilmeldung von dpa hereingereicht wurde, sind wir beide sofort an den Tatort gefahren - Hans-Jürgen Wischnewski, der ja Kölner Abgeordneter war, und ich. Und das Bild steht mir noch wie gestern vor Augen, die vier erschossenen Begleiter Ulmer, Brändle, Pieler, der Fahrer Marcisz, zugedeckt mit Planen. Das hat sich tief eingeprägt.

Hanselmann: Sie waren verantwortlicher Politiker in dieser Situation. Was denkt man da, wie reagiert man, welcher Plan geht einem spontan durch den Kopf, wenn überhaupt?

Vogel: Es war ja das erste Mal, dass ich mit meiner Argumentation und mit den rechtlichen Darlegungen im großen Krisenstab oder auch im kleinen Krisenstab mit Ursachen dafür setzte, dass Menschen - zumal ich Schleyer ja auch persönlich etwas kannte - möglicherweise deswegen ihr Leben verlieren. Wir haben natürlich lange Zeit darauf gehofft, dass das andere Mittel, das wir eingesetzt haben, nämlich fieberhafte Suche und dann Befreiung, dass das greift. Aber aus einem bis heute noch nicht ganz klaren Fehler heraus ist ein Hinweis auf die Wohnung, in der er sich tatsächlich ein paar Tage befand, nicht beim Bundeskriminalamt angekommen.

Hanselmann: Für alle verantwortlichen Politiker, das ist klar, und sie haben es selber eben gesagt, war es eine Zeit der extremen Belastung. Es mussten Entscheidungen darüber getroffen werden, wie man dem Terrorismus der RAF beikommen könnte. Und dazu gehörte eben auch diejenige, nicht auf die Forderung der Terroristen einzugehen, ihre Gefangenen freizulassen. Stand das im Fall Schleyer von Anfang an fest, oder gab es auch Stimmen, die für Zugeständnisse waren.

Vogel: Es hat gewisse Diskussionen gegeben. Einer der Anwesenden hat vorgeschlagen, diese Entscheidung noch weiter hinauszuschieben. Aber innerhalb kurzer Zeit war es dann allgemeines Einverständnis. Uns stand ja noch das Ergebnis der Freilassungen im Fall des Berliner Parlamentspräsidenten Lorenz vor Augen. Die damals Freigepressten haben ja nach ihrer Freilassung sich nicht in Ruhestand begeben, sondern haben weitere Gewalttaten begangen, auch Morde.

Hanselmann: Die Witwe von Hanns Martin Schleyer hat gerade gestern wieder gesagt, der Staat hat meinen Mann geopfert. Wenn Sie das hören, was empfinden Sie?

Vogel: Ich verstehe, dass Frau Schleyer so denkt und das auch so artikuliert. Wir haben ihn schon deswegen nicht geopfert, weil wir ja wirklich mit aller Kraft - und der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes Herold war für diese Aufgabe ganz besonders qualifiziert - nach seinem Verbleib gesucht haben und ihn dann befreien wollten. Aber es ist richtig, dass diese Entscheidung, weil er eben nicht gefunden wurde, zu seinem Tod eine Ursache gesetzt hat.

Hanselmann: Herr Vogel, Helmut Schmidt hat gerade seine Aussagen erneuert, er habe damals Schuld auf sich geladen dadurch, dass es nicht gelungen sei, Hanns Martin Schleyer zu befreien. Aber kann man in einem solchen Zusammenhang eigentlich von Schuld sprechen, wenn es, wie Sie eben sagten, darum geht, den Terroristen zu signalisieren, wir bleiben hart, wir tun zwar alles, um die von euch Entführten zu befreien, aber auf eure Forderung gehen wir nicht ein?

Vogel: Also das ist ein etwas erweitertes Verständnis des Schuldbegriffes. Für mich als Jurist spreche ich davon, dass Ursachen gesetzt wurde, dass er dann starb und schließlich ermordet wurde. Aber Schuld im rechtlichen Sinne würde ja voraussetzen, dass nicht mit aller Sorgfalt die Pro- und Contraargumente abgewogen worden sind. Und das ist nun wirklich nicht der Fall. Es ist mit großer Ernsthaftigkeit immer wieder in dieser Runde darüber gesprochen worden, aber immer mit dem Einvernehmen aller Beteiligten. Es ehrt Helmut Schmidt, dass er hier sogar von Schuld spricht. Ich spreche von Ursachen.

Hanselmann: Herr Vogel, auf die Entführung Schleyers wurde damals unter anderem auch dadurch reagiert, dass man über die Gefangenen der RAF eine Kontaktsperre verhängt hat, die laut "Süddeutscher Zeitung" mittels Blitzgesetz legalisiert wurde. Dann folgten eine Reihe von Gesetzen zur Bekämpfung des Terrorismus, der Ausschluss von Verteidigern wurde möglich gemacht, die Verhandlung in Abwesenheit der Gefangenen, die Kronzeugenregelung und mehr. Wie beurteilen Sie dies 30 Jahre später? Hat der Staat damals richtig reagiert oder überreagiert?

Vogel: Zunächst einmal das Kontaktsperregesetz: Die Länder, in deren Anstalten die Freizupressenden saßen, die haben schon vorher unter Berufung auf eine Bestimmung des Strafgesetzbuches die Kontakte unterbrochen. Und dafür gab es ja auch gute Gründe, weil es dauernde Kontakte zwischen drinnen und draußen bis hin zu den Entführern gab. Anfang Oktober habe ich mit meinem Vorschlag dann der Sache eine rechtliche Grundlage gegeben, denn die Notwendigkeit, diese auch über die einzelnen Anwälte laufenden Kontakte zu unterbrechen, war offenkundig. Und in dem Gesetz ist vorgesehen, dass die verhängte Kontaktsperre innerhalb von ein oder zwei Wochen vom Bundesgerichtshof auf ihre Rechtmäßigkeit nachgeprüft werden muss. Und das ist ja dann auch geschehen.

Die Frist war etwas kurz für das Gesetz, aber die Diskussionen waren außerordentlich gründlich. Da ist im Rechtsausschuss mehr und länger diskutiert worden als bei anderen Gesetzen.

Dass sich der Staat verändert hätte, das kann ich nicht akzeptieren. Er ist besonnen und entschlossen mit dieser Herausforderung fertig geworden, das wäre mein Urteil über die damalige Zeit. Wobei wir allerdings im Fall der "Landshut" natürlich unheimliches Glück hatten, dass kein einziger der Insassen bei der Befreiung zu Schaden kam. Das war wirklich ein Glücksfall. Bei aller Tüchtigkeit der GSG9, dieser besonderen Einsatztruppe - es war auch Glück dabei.

Hanselmann: Ich möchte noch mal kurz mit Ihnen darüber sprechen, wie der Staat damals die RAF eingeschätzt hat. Im Zuge der Bekämpfung der RAF wurden ja auch Teile der damaligen Linken als Nährboden bezeichnet für den Terrorismus, als Sympathisanten, als mögliche Unterstützer. In die Fahndung wurden sie mit einbezogen, Hausdurchsuchungen, Straßensperren waren an der Tagesordnung. Hat der Staat die RAF damit nicht als gefährlicher eingestuft als sie war? Oder anders ausgedrückt: Hat man ernsthaft gedacht, die RAF könne sich zu einer größeren Bewegung ausweiten und den Rechtsstaat in Gefahr bringen?

Vogel: Nein, man ist davon ausgegangen, und das war ja auch richtig, dass Menschenleben in Gefahr sind, erst eines und dann an die 90. Und wenn man in einem solchen Fall nicht alle rechtlich zulässigen Mittel einsetzt, auch Rasterfahndung, und wenn ein richterlicher Beschluss vorliegt, eine Hausdurchsuchung, dann hätten wir uns bittere Vorwürfe machen müssen. Die Einschätzung der RAF ging auseinander, aber ich würde glauben, dass ich mit der Auffassung, dass das eine ernste Herausforderung ist, weil hier nicht Meinungsfreiheit geübt wird, sondern zur Durchsetzung der eigenen Vorstellung Menschen ermordet werden, und zwar zum Teil einfach in menschenverachtender Weise, wenn ich wieder auf das Bild in der Kölner Straße zurückkomme, dann ist das wohl eine Einschätzung, die viele geteilt haben. Die Sterne der RAF sind ja nach der Befreiung der Landshut auch allmählich erloschen.
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