"Völlig unglaublich!"

Marco Politi im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 09.06.2012
Die so genannte Vatileaks-Affäre hat den Vatikan erschüttert. Vertrauliche Dokumente gelangten ans Licht der Öffentlichkeit. Die Autorität von Papst Benedikt XVI. ist erschüttert. Journalisten und Vatian-Kenner Marco Politi sieht in der aktuellen Situation auch einen Beleg für die Schwäche von Benedikts Pontifikat.
Anne Françoise Weber: Vertrauliche Dokumente, die ans Licht der Öffentlichkeit kommen – das gibt es immer wieder. Wenn sie aber aus einem Haus stammen, das erstens für seine göttliche Berufung und zweitens für seine Intransparenz bekannt ist, dann wird es besonders interessant.

Schon seit Monaten befeuern Indiskretionen aus dem Vatikan die Gerüchteküche um Intrigen und Feindschaften an der Kurie, um einen schwachen Papst und einen ungeliebten Kardinalstaatssekretär. "Joseph Ratzinger: Krise eines Pontifikats" heißt ein Buch, das vor einigen Monaten in Italien erschienen ist. Ich habe vor der Sendung mit dem Autor Marco Politi gesprochen. Er hat über 20 Jahre lang aus dem Vatikan für die italienische Tageszeitung "La Repubblica" berichtet und schreibt nun für "Il Fatto". Zunächst habe ich Marco Politi gefragt, ob er durch die sogenannte Vatileaks-Affäre wirklich Neues erfahren hat oder ob auch ohne Geheimdokumente das Wesentliche schon längst bekannt war.

Marco Politi: Ja, das Neue an der ganzen Geschichte ist, dass dieses Mal ein Machtkampf im Vatikan auf die internationale Ebene der mass media gebracht wird. In alten Zeiten war es so: Manchmal fand ein Journalist ein Dokument – er hatte einen Freund im Vatikan. Aber dieses Mal ist es eine organisierte Aktion, und das bedeutet, dass es ein Netzwerk gibt, eine Dissidentengruppe. Wir wissen nicht, wie viele Leute da zusammenarbeiten, wie viele Laien, wie viele Kleriker. Es könnte zwischen 5 und 20 schwanken. Und diese Dissidenten, die kurz gesagt Kardinal Bertone als Staatssekretär stürzen wollen, also eine Änderung an der Spitze der Regierung der Kirche wollen, haben sich entschlossen, seit Monaten Geheimdokumente zu sammeln und dann langsam an die Öffentlichkeit zu bringen. Und der zweite Punkt – völlig unglaublich – ist, dass eine dieser Personen, die diese Dokumente genommen hat, der Kammerdiener des Papstes ist, …

Weber: Paolo Gabriele.

Politi: … und das war noch niemals … Im Kalten Krieg, wo damals KGB oder die CIA immer sozusagen Spione im Vatikan hatten oder versuchten zu haben in wichtigen Positionen – es war noch nie passiert, dass eben in der engsten Umgebung eines Papstes so eine Art Treuebruch da war.

Weber: Glauben Sie denn, dass dieses Unternehmen zum Ziel führen wird? Wird sich Benedikt XVI. so unter Druck setzen lassen, dass er sich von Bertone distanziert und ihn absetzt?

Politi: Also die erste Reaktion, die erste defensive Reaktion ist natürlich, dass man alles so lässt. Der Papst hat öffentlich vor einer Woche gesagt, dass er völliges Vertrauen in seine engsten Mitarbeiter hat. Und was noch wichtiger ist: Vor zwei Tagen ist der ehemalige Staatssekretär Kardinal Angelo Sodano, von dem alle Leute in Rom wissen, dass er völlig eine andere Regierungsart hat als Kardinal Bertone, aber er hat gesagt, er arbeitet gerne als Dekan des Kardinalskollegiums mit Kardinal Bertone zusammen, und es ist völlig normal, dass es im Kardinalskollegium verschiedene Meinungen gibt und dass man auch verschieden abstimmt. Also in diesem Moment will die Institution zeigen, dass sie ein festes Gefüge ist.

Viele warten im Vatikan, was jetzt im Dezember passieren könnte, denn im Dezember wird Kardinal Bertone 78 Jahre alt, das bedeutet an sich nichts, aber vor sechs Jahren hat sich damals Kardinal Sodano als Staatssekretär zurückgezogen. Also das könnte auch ein Moment sein, in dem der Papst entscheidet, einen neuen Staatssekretär zu wählen. Denn das Problem ist, dass von Anfang an Kardinal Bertone einem Teil der Kurie sehr fremd war, denn er kam nicht aus dem diplomatischen Dienst, er hatte keine Erfahrung in der Regierung der Maschine der Kurie, und man hat ihn auch einerseits als unerfahren empfunden und andererseits auch als zu sehr herrisch, obwohl er persönlich eine sehr nette Person ist, eine sehr liebenswürdige Person, aber er ist auch sehr entschlossen, zu kommandieren. Und das haben wir ja gesehen, indem er jetzt Monsignore Viganò, einem Prälaten, der von Korruption in der Kirche gesprochen hatte, nach oben befördert hat und nach Washington als Botschafter geschickt hat, und auch, das haben wir noch eklatanter gesehen, mit der Entlassung von dem Präsidenten der vatikanischen Bank Ettore Gotti Tedeschi, der für die völlige Transparenz der vatikanischen Bank kämpfte.
Weber: Für die Transparenz scheint ja auch Papst Benedikt XVI. einzustehen, gleichzeitig scheint auch der Papst nicht so viel von der Kollegialität der Bischöfe zu halten. Wo vermuten Sie die Konfliktlinien zwischen Bertone und Benedikt?

Politi: Ja, das zeigt eigentlich die Schwäche dieses Pontifikats, denn vom intellektuellen Standpunkt aus und vom geistigen Standpunkt aus hat Papst Benedikt eine klare Linie. Er will natürlich die Transparenz in Geldangelegenheiten von der vatikanischen Bank, aber als er eben einen ersten Erlass geschrieben hat, in dem eben die vatikanische Bank für Transparenz arbeiten sollte – der Papst hat auch extra eine neue Behörde für finanzielle Information aufgestellt. Aber nach ein paar Monaten nach diesem Erlass kam dann ein zweiter Erlass, der eben diese neue Behörde dem Staatssekretariat unterstellte. Was war der Punkt? Natürlich sind alle einig, dass in der Zukunft die vatikanische Bank völlig transparent sein soll, aber das Staatssekretariat und Kardinal Bertone haben Angst, dass, wenn man transparent ist, auch viele Sachen von der Vergangenheit ans Licht kommen. Und da hat Kardinal Bertone angefangen zu bremsen, und da war eben der Konflikt zwischen Gotti Tedeschi und Kardinal Bertone, aber nicht nur Gotti Tedeschi, sondern einem wichtigen Kardinal der römischen Kurie, Kardinal Attilio Nicora, der eben Präsident von dieser neuen Behörde für finanzielle Information ist.

Diese Zwiespältigkeit des Pontifikats zwischen Prinzipien und Regierung haben wir zum Beispiel in Italien auch im Fall der Missbrauchsskandale gesehen: Der Papst hat die Deutsche Bischofskonferenz vor zwei Jahren empfangen, den Präsidenten Monsignore Zollitsch, und hat gesagt, dass die deutschen Bischöfe eine ausgezeichnete Arbeit leisten, und in Deutschland gibt es eben einen Bischof in Trier, Bischof Ackermann, der zuständig ist für die ganzen Missbrauchsfälle. Und Italien, wo die Italienische Bischofskonferenz direkt dem Papst untersteht, in Italien tut man praktisch nichts. Natürlich sagt man in Italien: In Zukunft wird man einschreiten. Aber in Italien gibt es keine Untersuchungskommission, keinen Bischof, der national zuständig ist, keine Referenten in den Diözesen, es gibt noch nicht mal eine Telefonnummer in den Diözesen, wohin man sich wenden kann. Also da sieht man wieder mal, wie eben dieser Papst, wenn es aufs richtige Regieren kommt, … da sieht man die schwachen Punkte dieses Pontifikats.
Weber: Und noch kurz zum Schluss der Blick auf den Kammerdiener, Paolo Gabriele, der sitzt in Haft im Vatikan. Läuft da ein Verfahren, ein strafrechtliches, wie das in Deutschland und in Italien der Fall wäre, oder hat das doch mehr mit Inquisition zu tun?

Politi: Nein, da muss man sagen, dass … Die Regeln in dem Vatikan, die sind ja nach dem italienischen Recht gebildet, und die sind sehr dem Angeklagten günstig. Also ein Angeklagter muss drei Stufen eines Verfahrens durchgehen, bevor er wirklich endgültig verurteilt wird. Die allgemeine Meinung ist ja, dass es dem Vatikan mehr darum geht, zu wissen, wer die Komplizen dieses Dissidenten-Netzwerkes sind, und dass sie natürlich wahrscheinlich schon nach der ersten Instanz, wenn er verurteilt wird, … In diesem Falle ist er ja nur des Diebstahls angeklagt, also nicht des Hochverrats. Und wenn man ihn verurteilt, wird ganz bestimmt der Papst ihm seinen Pardon geben.

Was in diesem Moment aber viel mehr die öffentliche Meinung beunruhigt, ist: In den letzten Tagen war die Polizei in dem Haus von dem ehemaligen Präsidenten der vatikanischen Bank Gotti Tedeschi wegen anderen Sachen, also wegen Korruptionsverfahren, die nicht Gotti Tedeschi angehen, aber einen Freund von ihm, der Manager eines anderen Unternehmens ist, eines staatlichen Unternehmens ist. Und da hatte die Polizei den Verdacht, dass dieser Manager vielleicht Dokumente in dem Haus von Gotti Tedeschi gelassen hat. Aber man hat im Haus von Gotti Tedeschi ein Memorandum für den Papst gefunden, und in diesem Memorandum erzählt Gotti Tedeschi alles, was seine Schwierigkeiten waren, und Gotti Tedeschi hat auch gesagt, er hat Angst um sein Leben. Er hatte schon in den letzten Zeiten, das wusste niemand, aber er hatte sich schon an eine Agentur von Bodyguards gewendet. Und das große Problem ist heute noch die Undurchsichtigkeit vieler Bankkonten in der vatikanischen Bank, Istituto per le Opere di Religione, denn in der Vergangenheit war es schon passiert, dass die Mafia diese Bank … einige Bankkonten zur Geldwäscherei benutzt hat. Und heute noch ist die Situation so, dass selbst Gotti Tedeschi nicht wusste, wer hinter gewissen Bankkonten stand.

Weber: Es bleibt also jedenfalls sehr spannend, was da noch alles im Vatikan ans Licht kommen wird. Vielen Dank nach Rom, Marco Politi, italienischer Journalist und Vatikankenner. Über eine deutsche Übersetzung seines Buches "Joseph Ratzinger: Krise eines Pontifikats" wird zurzeit verhandelt, wir sind gespannt, wann es erscheint.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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