Völkermorde in Ruanda und Armenien

Warum hat Deutschland nichts getan?

29:35 Minuten
Das Ausweisdokument eines Tutsi-Mädchens, das während des Völkermords in Ruanda getötet wurde.
Bis zu einer Million Opfer forderte der Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994. Die internationale Gemeinschaft schaute dem Morden weitgehend tatenlos zu. © imago / ZUMA Press
Von Arndt Peltner · 19.06.2019
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Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: Bei den Völkermorden in Armenien 1915 und Ruanda 1994 spielte Deutschland eine wenig rühmliche Rolle. Denn in beiden Fällen wusste man Bescheid über das Morden, das Leid und die Not der Opfer und tat - nichts.
Ruanda 1994, Armenien 1915. Zwei Todesstunden der Menschheitsgeschichte im 20. Jahrhundert. Räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt. Die Frage nach einer Mitverantwortung für beide Genozide stellt sich auch für Deutschland.
"Ich zitiere mal wörtlich eine Depesche von Botschafter Hans von Wangenheim an Reichskanzler Bethmann-Hollweg vom 7. Juli 1915: 'Es ist die erklärte Absicht der türkischen Regierung, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten.'", sagt der Kulturhistoriker Rolf Hosfeld. "Das ist eine Ansicht und eine Sichtweise, die sich während des Krieges auch nicht geändert hat und die auch niemand in Frage gestellt hat."
Hosfeld ist der wissenschaftliche Leiter des Lepsiushauses in Potsdam. Mehrfach und vielbeachtet hat er über den armenischen Völkermord geschrieben. 2015 erschien sein Buch "Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern".

Hindenburgs Memoiren zeigen: Man wusste Bescheid

Was wusste das Deutsche Reich von den Vorgängen im Osmanischen Reich, von der Brutalität, den Deportationen, der Not und dem Leid und auch davon, dass am Ende etwa 1,1 Millionen Armenier zu Tode kamen?
"Man wusste genau Bescheid", meint Hosfeld. "Am klarsten entnimmt man es den Memoiren von Hindenburg, die er 1920 geschrieben hat in seinen Kriegserinnerungen. Er schreibt dort, es war das Erwachen der Bestie im Menschen, eines der schwärzesten Kapitel in der Geschichte aller Völker und Zeiten. Punkt. Aber im nächsten Satz kommt dann die Formulierung: aber wir haben sie gebraucht."
Historisches Foto von Armeniern vor einem Haufen Schädel und Gebeinen. Ein Mann hält einen Totenschädel hoch.
Es war das Erwachen der Bestie, schreibt Hindenburg in seinen Kriegserinnerungen von 1920.© imago / Zuma press
Die Deutschen waren gut vernetzt im Osmanischen Reich, erklärt auch Jürgen Gottschlich, Türkei- Korrespondent und Autor des Buches "Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier".
"Die Deutschen waren schon seit etwa 1870 mit einer Militärmission vor Ort und haben das seitdem sukzessiv ausgebaut gehabt. Und waren dann bei Ausbruch des Krieges mit einer großen Militärmission vor Ort, mit der Botschaft natürlich vor Ort, mit diversen Firmen vor Ort, haben dieses Großprojekt Bagdadbahn vorangetrieben", so Gottschlich. "Der Sinn der ganzen Sache war, das Osmanische Reich, im Gegensatz zu den Franzosen und den Engländern, nicht zu zerschlagen, sondern zu erhalten und als Basis für eine neue, eigene Orientpolitik zu nutzen. Dafür war das Osmanische Reich wichtig, und dafür haben sie den Völkermord an den Armeniern nicht nur hingenommen, sondern im Sinne der Stärkung ihrer Bündnispartner in Konstantinopel auch mit unterstützt."

Selbstzensur der deutschen Presse

Margaret Anderson, Geschichtsprofessorin an der kalifornischen Universität in Berkeley, hat ausgiebig über die Rolle Deutschlands beim armenischen Völkermord geforscht. Was sie vor allem kritisiert, ist, dass das offizielle Deutsche Reich verhinderte, dass überhaupt über die Deportationen und den gezielten Völkermord daheim berichtet werden konnte.
"Es gab eine Selbstzensur bei den Zeitungen und dann wohl ab 1917 auch ein Zensurbuch der Regierung, was alles in Bezug auf die Invasion Belgiens, die Opfer, berichtet werden konnte", sagt Anderson. "Das galt auch für die Türkei. Sie wollten nicht, dass überhaupt über die Türkei berichtet wird. Sie hofften, damit jegliches Gespräch über die Türkei zu verhindern, auch wenn es in der Regierung Kräfte gab, die für die Türkei Propaganda betreiben wollten."
Einer, der unermüdlich versuchte, über die Zustände und die dramatischen Ereignisse im Osmanischen Reich zu berichten und die deutsche Öffentlichkeit zu informieren, war der evangelische Theologe Johannes Lepsius. Sein "Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei" wurde 20.000 Mal vor allem an protestantische Gemeinden verschickt, bevor die Zensur im Kaiserreich zugriff.

Eine US-Historikerin verteidigt die deutsche Regierung

Deutschland war im Kriegszustand. Das ist für die Geschichtsprofessorin Margaret Anderson auch der Hauptgrund, warum im Auswärtigen Amt und in der Reichskanzlei nichts gegen den Verbündeten Türkei unternommen wurde:
"Ich habe zwei Fragen an meine Kollegen, die Deutschland so verurteilen. Zum einen, schauen wir uns die anderen Länder an, was die getan haben. Und ich kann einiges über Großbritannien sagen, etwas zu Frankreich und sehr viel über Henry Morgenthau, unseren Botschafter. Zum anderen würde ich fragen, wenn Sie ein Land im Krieg sind, umzingelt von den Gegnern, denn die kontrollieren die Meere, die Zugänge, haben den Zugang zu den Ressourcen der ganzen Welt", betont die Historikern und fragt:
"Was würden Sie unternehmen, um den armenischen Genozid zu stoppen? Die Deutschen stehen einer Million Entente-Truppen gegenüber - würden Sie zehn, zwölf Divisionen dafür nehmen, um über den Balkan zu ziehen, quer durch die Türkei zu kämpfen, um genau was zu erreichen? Den Osten der Türkei zu besetzen, um die Armenier zu schützen? Wenn Sie also im Auswärtigen Amt sitzen und über den Krieg und den Ausgang nachdenken, darüber, dass diese armen Armenier abgeschlachtet werden. Was würden Sie machen, wenn Sie auch das größte Herz der Welt haben? Meine Antwort ist: nichts."
historische Aufnahme eines Massengrabs mit den Leichen getöteter Armenier.
Mehr als eine Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 durch Massenmorde und Deportationen ums Leben gekommen. Viele wurden in Massengräbern verscharrt© picture alliance / dpa / Foto: epa CRDA
Für Anderson ist klar, dass von einer deutschen Schuld am Völkermord an den Armeniern nicht gesprochen werden könne:
"Es gibt keine deutsche Schuld", sagt sie. "Ich glaube nicht, dass eine Intervention irgendetwas gebracht hätte. Nicht für die Armenier, nicht für die Deutschen, die gegen die Türken hätten kämpfen müssen, um die Armenier zu retten. Ich glaube, nicht viel konnte für die Armenier getan werden, auch nicht diplomatisch, es sei denn, man wollte so etwas machen wie die Amerikaner im Irak. Was die Deutschen hingegen hätten tun sollen, wäre ehrlich gegenüber der Presse zu sein. Das hätte aber wohl nichts an der deutschen Politik verändert. Was ich interessant finde ist, dass die Türken erklärten, darüber dürfe nicht berichtet werden. Kemal Pascha verbot jegliche Fotos. Aber Krass von Kressenstein sagte, wir machen Fotos. Er sagte das nicht zu Kemal, sondern zu seinen Leuten. Wir dokumentieren das, er schämte sich für die deutsche Presse."

Ruanda 1994: Welche Rolle spielte Deutschland?

"Schon allein die Tatsache, dass die deutsche Seite von dem Ausbruch des Bürgerkrieges und dem Ausbruch des Genozids trotz zahlreicher Warnzeichen vollständig überrascht wurde, belegt zur Genüge, dass es bei Konflikterkennung und Informationsfluss zu schwerwiegenden Defiziten gekommen ist, wofür psychologische, strukturelle und organisatorische Gründe verantwortlich zu machen sind."
So heißt es in einem vertraulichen Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es geht dabei nicht um Armenien 1915/16, sondern um das Land der tausend Hügel. Die Schweiz Afrikas. Deutsche Kolonie bis zum Ersten Weltkrieg, belgische Kolonie bis 1962. Mehrheitlich besiedelt von Hutu, aber die Belgier brachten Tutsi in Führungspositionen. Die Folge: ethnische Spannungen und Übergriffe, die in den letzten Genozid des 20. Jahrhunderts mündeten. Nachdem die deutsche Regierung den Völkermord an den Armeniern wahrgenommen, aber ignoriert hatte, kann man im Falle Ruandas gewissermaßen von nahem betrachten, welche Rolle die Institutionen der deutschen Regierung spielten.
Die einstige Kolonialmacht Deutschland war in dem kleinen afrikanischen Land sehr präsent. Neben der deutschen Botschaft waren der Deutsche Entwicklungsdienst DED und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ in etlichen Projekten im ganzen Land aktiv. Eine Beratergruppe der Bundeswehr arbeitete eng mit dem ruandischen Militär zusammen. Das Bundesland Rheinland-Pfalz unterhielt seit Mitte der 80er-Jahre eine enge Partnerschaft mit Ruanda.
Blick auf heimkehrende Menschen, die nach ihrer Vertreibung aus der ruandischen Hauptstadt Kigali durch Rebellen der Patriotischen Front im Juli 1994 wieder in ihre Häuser zurückkehren durften.
Der Bürgerkrieg in Ruanda machte zahlreiche Menschen zu Flüchtlingen. © picture-alliance / dpa / epa AFP
Ab 1990 tobte in dem Land ein Bürgerkrieg zwischen Hutu und Exil-Tutsi.
"Also, die Jahre von 1990 bis 1994 waren praktisch ein Bürgerkrieg", sagt Peter Molt, der als Vater der Partnerschaft zwischen Ruanda und Rheinland-Pfalz gilt, die bereits 1982 initiiert wurde.
1993 eskalierte die Lage, als die FPR-Truppen der Exil-Tutsis aus Uganda unter der Leitung des heutigen Präsident Paul Kagame in Ruanda einmarschierten.
"Also, ich will die Botschaft jetzt nicht kritisieren, aber es war schwierig", sagt Michael Steeb, von Januar 1990 bis Oktober 1993 Leiter des Koordinationsbüros in Kigali.
Dazu der frühere Botschafter:
"Mein Name ist Dieter Hölscher, ich war Botschafter in Ruanda zu der Zeit, als sich Ruanda gut entwickelte, aber bis es dann zu der Katastrophe kam, und ich war in Ruanda von Anfang 1991 bis zum April 1994. Ja, es war klar, dass es die Spannungen gab, denn die Tutsi waren ja aus dem Land vertrieben worden und sie bauten sich vor allem, glaube ich, mit amerikanischer Hilfe in Uganda wieder auf. Und da kam es ja schon zu kriegerischen Handlungen, immer weiter, immer weiter. Aber ich persönlich habe mir nie vorstellen können, dass es derartig katastrophal war und dieses Massenmorden und, dass es Kämpfe bis zur Hauptstadt geben könnte, gut, aber nicht in diesem Maße."

"Ein deutscher Experte wird unmittelbar Augenzeuge des "Probelaufs" für den Völkermord in der Bugesera südöstlich von Kigali (mit Hunderten von Toten und mindestens 15.000 Flüchtlingen) und gibt eine an Deutlichkeit nicht zu überbietende Schilderung. Er kann fotografieren, den Film in Deutschland entwickeln lassen und ihn mit einem Bericht an die GTZ weiterleiten. Es gab keinerlei Reaktion." (Aus dem vertraulichen Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom April 1999.)

Mit dem Friedensvertrag von Arusha im August 1993, der von den Vereinigten Staaten im Grunde diktiert wurde, sollte Ruhe in die Region gebracht werden. Doch genau das Gegenteil geschah. Radikale Kräfte auf Seiten der Hutus wurden stärker. Bewaffnete Milizen wurden gegründet, es kam immer wieder zu Anschlägen.
"Schließlich ist darauf zu verweisen, dass es in der Vor-Genozidzeit ab etwa 1990 eine Fülle von Hetzliteratur, voran das ominöse Blatt Kangura, gegeben hat, die praktisch offen zum Völkermord aufgerufen hat", heißt es in dem erwähnten Ministeriumsbericht.
"Also Kangura hatte eine große Bedeutung, das war eine absolut hetzerische Zeitschrift", erinnert sich Jörg Zimmermann, der 1991 mit seiner Familie nach Ruanda kam.
"Der Chefredakteur Hassan Ngeze war ein Schwein, kann man nicht anders sagen, ein extremistisches Schwein und hat ganz früh schon, 1990, ganz mies Propaganda gemacht und ist auch persönlich verstrickt in viele Vorwürfe im Hinblick auf Mord und Totschlag. Wurde leider, muss man sagen, eben doch sehr aufmerksam gelesen, das ist literarisch das Pendant zum Radio RTLM, das sehr bekannt geworden ist, traurig bekannt geworden ist. Und diese ganzen medialen Kampagnen haben die Radikalisierung vieler Hutu vorangetrieben."

Kein Genozid aus heiterem Himmel

Wenige Monate vor Beginn des Völkermords warnte Pfarrer Zimmermann im Februar 1994, dass die Hetzliteratur und die Hetzradioprogramme das Klima vergifteten. In seinem Rundbrief machten ihm die radikalen Hutus Sorgen, die mit ihrem kompromissbereiten Präsidenten unzufrieden waren: Nicht auszudenken, was wäre, wenn Habyarimana tatsächlich was passierte…
"Ich wollte in Deutschland ein wenig seriöse und präzise Information über Dinge, die in Ruanda sich ereigneten, weitergeben", sagt Zimmermann. "Weil ich mitbekam oder auch hörte aus Deutschland, dass die Medien zum damaligem Zeitpunkt, also vor dem 6. April 1994, fast nichts über Ruanda brachten. Sodass in Deutschland der Eindruck entstand, als der Genozid losging, das sei wie aus dem nichts vom Himmel herunter gefallen, so ähnlich wie Habyarimanas Flugzeug."
Nach dem Absturz des Präsidentenflugzeugs eskalierte die Gewalt.
"Also zunächst mal bekam man mit, dass es knallte", sagt Zimmermann.
Der damalige deutsche Botschafter in Kigali nahm das jedoch ganz anders auf:
"Sehen konnte man das nicht, das war immer fern von der Hauptstadt, meistens, und dann hörte man von rebellischen Vorfällen, da gab's zwei, drei Tote, was weiß ich, aber nicht im größeren Maße, so wie es dann später war. Und bis zu diesem 6. April gab es nichts im größeren Maße."

"Ein von uns telefonisch interviewter ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen State Department, der in der fraglichen Zeit in Kigali gewesen ist, konnte sich über unseren Auftrag nur wundern: für jeden, der damals in Kigali gelebt und die Augen offen gehalten habe, sei die Entwicklung hin zum Völkermord klar gewesen." (Aus dem vertraulichen Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, April 1999)

Reinhardt Bolz war damals in der GTZ, der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, für Ruanda und Burundi zuständig:
"Diese Spannungen wurden von unseren Projektleitern immer berichtet", sagt er. "Das ging so weit 1993, dass Morde passierten, zum Beispiel Wachposten von uns, die Vorratslager bewachten. Wir hatten das immer sowohl der Botschaft berichtet, das war selbstverständlich, aber auch dem BMZ und haben darum gebeten, dass bei den nächsten Regierungsgesprächen das BMZ das deutlich ansprechen sollte, dass sie so was nicht dulden könnten und dass wir auch notfalls abziehen würden, wenn es hier weiterhin Unruhen gäbe in dem Sinne, dass hier unsere eigenen Leute ermordet werden. Wir hatten mehrfach den Wunsch, dass wir ein politisches Signal setzten sollten. Und wurden aber immer wieder zurück gepfiffen, sag ich mal, oder angewiesen durchzuhalten, weiterzumachen, um das Friedensabkommen, was in Arusha in August 1993 unterzeichnet war, nicht zu gefährden."
"Die systematische Vorbereitung des Völkermordes, für die es seit 1992 Hinweise gab, kommt in den Botschaftsinformationen (…) nicht vor", heißt es im Ministeriumsbericht.

Deutschland: einer der größten Geldgeber in Ruanda

Jürgen Wolff ist Professor an der Universität Bochum. Seit Ende der 60er-Jahre beschäftigt er sich mit Ruanda und der Entwicklungspolitik. Ende der 90er-Jahre wurde er als Sachverständiger vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit beauftragt, mit seinem Hamburger Kollegen Andreas Mehler die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Ruanda zu evaluieren.
"Deutschland war kein großer Spieler, das ist richtig", sagt Wolff. "Aber Deutschland war in vielfacher Weise verbunden. Es gab sehr viele Projekte dort, Deutschland soll auch nicht unterschätzt werden, es war einer der größten Geber dort überhaupt."

"Die Bundeswehrberatergruppe hatte dienstlich enge Kontakte zur ruandischen Armee. Es war bekannt, dass die mörderischen Milizen in bestimmten Lagern indoktriniert und ausgebildet wurden. Aus der Gruppe wurden derartige Warnungen an die Botschaft mit allen Details weitergeleitet; die Botschaft nahm diese Informationen zur Kenntnis." (Aus dem vertraulichen Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, April 1999)

"Diplomaten werden dafür bezahlt, dass sie Ärger vermeiden", so Wolff. "Wenn ein deutscher Militär zum Botschafter geht und sagt: 'Herr Botschafter, schauen Sie mal, ich habe hier eine Karte von Ruanda, und da ist der Wald von Niungwe, da gibt es ein Lager der Interahamwe, die trainieren da Massaker und wenn es mal los geht, dann sag ich Ihnen zwischen 10.000 und 30.000 Tote voraus.' So, laut Aussage dieses Militärs. Ja, dann ist die Reaktion des Botschafters, jedenfalls nach dessen Aussage, der Aussage des Militärs, das ist ein Oberst gewesen: 'Verrückt. Militär denkt nur an Leichen'. Das ist eine Bewertung, die kann er natürlich vornehmen, die soll er auch vornehmen, dafür ist er ja auch als politischer Analytiker dahin geschickt. Nur das Ding dann einfach, und jetzt kann ich Ihnen versichern, das Ding dann einfach unter den Tisch zu kehren und nicht einmal in seinem Vierteljahresbericht zu erwähnen, das sollte er eigentlich nicht."
GTZ-Mitarbeiter Bolz erinnert sich: "Wir hatten schon länger beantragt, dass wir eine Funkverbindung aufbauen und Funklizenzen bekommen. Der Botschafter empfand das als Spielerei und sagte, die GTZ spielt mal wieder Krieg und Frieden, aber wir entscheiden, wann Krieg und wann Frieden ist."
Soldaten der Regierungsarmee (l) und verbündete Hutu-Milizen (r) am 12. Juni 1994 während einer Kampfpause in der Nähe der umkämpften Stadt Gitarama.
Nach der Ermordung des Präsidenten verbündeten sich Hutu-Milizen und Regierungstruppen.© picture-alliance / dpa / epa_AFP
Mit dem Abschuss der Präsidentenmaschine im Landeanflug auf den Flughafen Kigali am 6. April 1994 begann das offene Morden. Unmittelbar danach wurden die ersten Straßenblockaden errichtet, die Milizen der Interahamwe zogen zu den Häusern der gemäßigten Hutu und zu den Tutsi.
"Was irgendwie überraschend war, das Unglück passierte ja, es war, glaube ich, Mittwoch, der 6. April abends so gegen neun Uhr, und im gleichen Moment die Hutus, die bisherige Regierung, brauchte gar nicht lange überlegen, was machen wir nun, die hatten alles offenbar vorbereitet", sagt Dieter Hölscher, der deutsche Botschafter in Ruanda 1991-94.
"Wir konnten das von unserer Residenz auch sehen, auf der Straße diese jungen Männer da mit weißen Hemden und dunklen Hosen, mit Zetteln in der Tasche, die zu verschiedenen Häusern gingen und Leute rausholten. Und was mich auch gewundert hat, das ist mir bis heute noch nicht klar, einmal, wer das Flugzeug abgeschossen hat, da gibt es viele Spekulationen, aber wenn ich recht informiert war damals, dann haben die Franzosen schon in der Nacht bis zum nächsten Morgen sieben Uhr dafür gesorgt, dass die Frau, die Witwe von Habyarimana ausgeflogen wurde. Ist ein bisschen überraschend, also beide Seiten scheinen da mehr gewusst zu haben als die Öffentlichkeit."

Mit Alkoholika sollten Plünderer beruhigt werden

Am 26. Mai 1994 verfasst ein Mitarbeiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, einen "Bericht zur Evakuierung aus Rwanda".
Darin heißt es:
6.4.1994: Gegen 20.30 Uhr waren drei schwere dumpfe Schläge aus Richtung Flughafen/Kanombe zu hören. Kurze Zeit später rief mich meine Kollegin – Frau Lehmann – über den UKW-Funk und teilte mit, dass sie darüber informiert wurde, dass das Flugzeug des Präsidenten im Landeanflug von Raketen abgeschossen worden sei und der Präsident vermutlich tot ist.
7.4.1994: Auch weitere Rückfragen bei Botschaft und dem Projektleiter der Bundeswehrberatergruppe über den Stand der Entwicklung ergaben lediglich die Antwort, dass die Lage weiterhin undurchsichtig und nicht einschätzbar sei. Beide, der deutsche Botschafter sowie der Projektleiter der Bundeswehrberatergruppe waren lapidar der Meinung, dass es jetzt eben aus Rache zwei Tage knallen werde, die Lage sich jedoch danach wieder beruhigen werde. Wir sollten uns weiterhin ruhig verhalten, Tür und Tor öffnen, falls Plünderer eindringen wollen sowie herausgeben, was verlangt wird. Eventuell seien die Plünderer und Soldaten auch mit Bier oder anderen Alkoholika zu beruhigen. Für uns und alle Mitarbeiter hat dies bedeutet, dass jeder auf sich selbst angewiesen ist und entscheiden musste, wie er sich bei einem Überfall am besten verhält."
GTZ-Mitarbeiter Reinhardt Bolz erinnert sich an eine nicht mehr handlungsfähige Botschaft:
"Als wir dann evakuieren wollten, nach dem ja schon zwei Tage geschossen war und die Leute unter den Tischen lagen, war der Botschafter nicht mehr erreichbar, der hatte sich eingeschlossen und die Stellvertreterin hatte uns dann signalisiert, entscheidet ihr selber, wann ihr geht, wann ihr evakuiert, denn wir sind nicht mehr handlungsfähig. Das war natürlich ein Trauerbeispiel, aber wenn wir nicht selber entschieden hätten... Wir haben Glück gehabt, dass keinem irgendetwas passiert ist, dass keine Toten oder Verletzten waren."

"Total hilflos" sei die Deutsche Botschaft gewesen

In einem GTZ-Bericht heißt es:
"Die Botschaft hat immer wieder darauf hingewiesen, dass keine ruandischen Flüchtlinge in den Häusern aufgenommen werden sollen, da damit eine direkte Bedrohung für die 'Gastgeber' bestand."
Das Auswärtige Amt erklärte hingegen auf Anfrage, dass es keine direkte Anweisung gegeben habe:
"Ebenso wenig kann die angebliche Anweisung zur Nichtaufnahme ruandischer Flüchtlinge bestätigt werden."
Der GTZ-Bericht vom 26. Mai 1994 kritisiert jedoch scharf die Arbeit der Botschaft, vor allem des damaligen Botschafters:
"Die Deutsche Botschaft war vom ersten Augenblick an der eingetretenen Krisensituation total hilflos und erhoffte durch die Verhandlungen in Brüssel eine Intervention der Belgier bzw. Franzosen zur Evakuierung der deutschen Staatsbürger, sodass ihrerseits keinerlei Handlungsbedarf nötig würde. (...) Der Deutsche Botschafter hat sich nicht erst zum Zeitpunkt der letzten Evakuierung, sondern lange vorher total passiv verhalten."

Kurz vor der Pensionierung noch mal Botschafter

Jürgen Wolff, der als Sachverständiger des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ende der 90er-Jahre die Rolle Deutschlands in Ruanda untersuchte, sieht die Rolle des Botschafters und des Auswärtigen Amts kritisch.
"Das gilt nicht nur für Ruanda, das gilt auch für andere Länder Afrikas. Es ist häufig sozusagen die letzte Station eines vor der Pensionierung stehenden Beamten im Auswärtigen Amt. Der kriegt dann als Krönung seines Lebenswerkes, seiner beruflichen Karriere noch mal den schönen Titel 'Botschafter'."
"Ich weiß nicht, ob er überhaupt die Dimension erkannt hat", sagt Reinhardt Bolz. "Die Dimension, dass man sich vorbereiten musste und dass das auch zur Verantwortung jeder Organisation gehört, seine Leute zu schützen. Er sah das als Kriegsspielerei an und hat das gar nicht so ernst genommen, dass so was auch nötig sein könnte, wahrscheinlich weil er auch die Dimension dieses Konfliktes nicht so scharf einschätzte."
Auf Anfrage erklärte das Auswärtige Amt schriftlich: "Das Auswärtige Amt bildet seine Mitarbeiter für Krisensituationen aus und permanent fort. In akuten Krisensituationen werden die Mitarbeiter intensiv u.a. von den Personalreferaten begleitet und beraten. Besonders wird auf die Belastbarkeit und Sozialkompetenz sowie auf die Flexibilität und praktischen Fähigkeiten der Mitarbeiter geachtet sowie deren physische und psychische Belastung bewertet. Für den Einsatz in permanenten Belastungs- und Krisengebieten werden nur Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausgewählt, die alle Qualifikationen für einen solchen Einsatz mitbringen. In Krisensituationen stehen Zentrale und Auslandsvertretung in permanentem Kontakt."
Heimkehrende Flüchtlinge in Ruanda (Foto vom 17.11.1996). 
Neben fast einer Million Todesopfer produzierte der ruandische Bürgerkrieg auch zahlreiche Flüchtlinge, vor allem Hutu, die aus Angst vor Vergeltung das Land verließen. Im November 1996 kehrten 500.000 zurück.© imago / epd
Man hätte auf jeden Fall mehr tun können, das ist völlig klar, findet Jürgen Wolff. "Zum Beispiel hätte man der Regierung sagen können, hört mal zu, wenn das hier nicht besser wird und ihr nicht den klaren Willen erkennen lasst, die Menschenrechtsverletzungen, die überhand nehmen, zu stoppen, dann werden wir die Entwicklungshilfe einstellen. Denn es ist völlig klar, die Regierung hing natürlich in erheblichem Maße von Entwicklungshilfe ab."

Im Aufarbeiten besser als im Handeln

Armenien 1915/16, Ruanda 1994: So unterschiedlich die beiden Genozide sind – die Rolle Deutschlands ist zwielichtig, weil Regierungsstellen wussten, was passierte, aber lieber wegschauten. Im einen Fall aus strategischem Kalkül im Ersten Weltkrieg, im anderen Fall, weil man das afrikanische Land bei den Personalplanungen des Auswärtigen Amtes offenbar gering schätzte.
"Nach dieser denkwürdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als die Ereignisse stattgefunden haben."
So kommentierte Bundestagspräsident Lammert eine Ruanda-Bundestagsdebatte 2014. Die entscheidende Frage bleibt: Was lernt die Bundesregierung, konkret das Auswärtige Amt, aus den Erfahrungen der Vergangenheit für die Zukunft?

Deutschland schaut nicht hin: die Völkermorde 1915 in Armenien und 1994 in Ruanda
Ein Feature von Arndt Peltner

Es sprachen:
Joachim Schönfeld, Thomas Holländer, Birgit Dölling, Ulrich Blöcher und der Autor
Tontechnik: Jan Fraune
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter

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