Völker haben ihre Symbole

Von Zafer Senocak |
Die Vergangenheit eines Volkes lässt sich nicht nur als museales Ereignis betrachten. Hinter jeder Zugehörigkeitsfrage steht die Erinnerung an eine Vergangenheit. Die Geschichte, so unterschiedlich sie aufgefasst und überliefert wird, also auch mit ihren Kontroversen und unterschiedlichen Deutungen, ergibt erst jene Prägestruktur, die so etwas wie Identität möglich macht.
Dieses Identitätsmuster wird herausgefordert, wenn Zuwanderung stattfindet und Menschen mit anderen historischen Erfahrungen in eine Gesellschaft einwandern. Wenn Integration eingefordert wird, also mehr als nur die physische Aufnahme dieser Menschen auf der Tagesordnung steht, baut sich die Vergangenheit wie eine Mauer auf, zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten.

Dieser Aspekt wird aber bei den Integrationsdebatten in Deutschland kaum berücksichtigt. Integration ist nicht nur ein Lernprozess. Sie setzt auch emotionale Identifikation voraus. Wie aber identifiziert man sich mit der Geschichte eines anderen Volkes, wie kann man Stimmungen, Trauer und Freude nachempfinden? Man kann es nicht oder nicht in dem selben Maße.

Ein Türke wird niemals die selben Gefühle gehabt haben, wie ein Deutscher, als die Mauer, die Deutschland geteilt hatte, fiel. Völker haben ihre Symbole. Ohne diese Symbole wäre historische Erfahrung nicht übersetzbar, in Gefühle und auch nicht in ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Wäre es nicht an der Zeit aufrichtig zu sein und dieses Faktum anzuerkennen? Zuwanderung akzeptieren heißt nicht historisch geprägte Identitätsmuster zu öffnen und damit ihrer wichtigen Funktion der Selbstfindung zu berauben. Zuwanderung bedeutet zu akzeptieren, dass unterschiedliche Identitäten sich begegnen und in einem lang währenden Kommunikationsprozess sich in Koexistenz üben müssen.

Das gelingt nur, wenn jene die sich da begegnen, wissen wer sie sind, was sie ausmacht. Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass in Deutschland ein Selbstfindungsprozess in Gang gekommen ist, der mit Gewissheit nicht in platter Deutschtümelei enden wird, aber dennoch auf der Suche ist, nach einem gangbaren Weg.

Viel hängt davon ab, wie sich dieses neue deutsche Selbstverständnis gegenüber anderen verhalten wird, die ihn auf diesem Weg begleiten. Diese Weggefährten kommen woanders her, womöglich sind auch sie auf der Suche nach sich Selbst. Auf jeden Fall aber sind sie mit anderem Gepäck beladen, das sie nicht ohne weiteres loswerden können und wollen. Auch für diese Gepäckstücke muss Platz geschaffen werden; nicht einfach in einem Land, das schon schwer an der eigenen Last tragen muss. Die Forderung an die Anderen, dass sie ihre Gepäckstücke an der Grenze abgeben sollen, wird nicht fruchten. Stattdessen sollte man den gemeinsamen Weg nutzen, um mehr voneinander zu erfahren.

Identitäten lassen sich nicht austauschen wie Pässe. Ihre Haltbarkeit ist länger, ihre Tiefenprägung lässt sich nicht durch politische Debatten, Einbürgerungstests und Behördeneingriffe auslöschen. Deshalb sind weder Modelle der Assimilation noch ein gleichgültiger Multikulturalismus Erfolg versprechend. Nur durch gegenseitigen Respekt vor den unterschiedlichen historischen Erfahrungen kommt man auf dem Weg zu sich Selbst weiter.

Doch dieser Respekt schließt eine kritische Sichtung der Erinnerungskulturen nicht aus. Man erinnert sich nicht nur an unterschiedliche historische Ereignisse, auch der Umgang mit diesen differiert. Die Türken verharren noch zu stark in einer heroisierenden Geschichtsschreibung, aus der heraus die türkische Nation geboren wurde und die sich heute schwerer internationaler Kritik ausgesetzt sieht. Die Deutschen dagegen haben einen Konsens der Aufarbeitung geschaffen, die sich vor allem auf die Periode des Nationalsozialismus konzentriert. Relativieren und Negieren dunkler Kapitel aus der eigenen Geschichte sind in Deutschland tabuisiert. In der Türkei sind sie dagegen absoluter Bestandteil der Geschichtswissenschaft, die somit mehr einer Ideologie gleicht als einer wissenschaftlichen Disziplin. Auch über diese Divergenzen haben Türken und Deutsche auf ihrem gemeinsamen Weg noch viel Gesprächsbedarf.


Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten2 1994. Nâzım Hikmet: "Auf dem Schiff zum Mars". Zusammen mit Berkan Karpat, 1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem". Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. Die Tetralogie "Der Mann im Unterhemd. Prosa." Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie." Hamburg (Rotbuch) 1997. "Gefährliche Verwandtschaft. Roman." München (Babel) 1998. "Der Erottomane. Ein Findelbuch." München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland." Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993 "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas." Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation." München (Babel) 2001.