Visuelle Musik, Improvisation und bildende Kunst

Von Roland H. Biswurm |
Das Berliner Jazzfest ist wieder einmal ein bunter Blumenstrauß Musik für Freaks und Fans. Das einst als Oppositionsfestival gedachte "Total music meeting" bietet visuelle Musik, Improvisation und bildende Kunst.
Auf Pilgerreise in die Hauptstadt zum Jazzfest, und zum Total music meeting. Im Auto zur Einstimmung Musik des Dave Pike Sets, "live at the Berlin Philharmonie", erschienen 1969 auf MPS. MPS, das Kürzel für Musikproduktion Schwarzwald, war lange Zeit der Inbegriff des Jazz made in Germany - initiiert vom Erben und Cheftonmeister der Schwarzwälder (Rundfunk-) apparatebauanstalt - SABA, Hans Georg Brunnerschwer:

Das Dave Pike set war bis weit in die siebziger Jahre der deutsch –amerikanische Exportschlager der Firma MPS in Sachen Jazz- pop , Rock oder Popjazz. Heute eröffnet die 42. Ausgabe des Berliner Jazzfestes mit einem Dokumentarfilm zum Phänomen MPS mit dem Titel "jazzin" the black forest - Die MPS Story": Anschließend spielt - nach beinahe 35 Jahren erstmals wieder das Dave Pike set, allerdings nicht mehr in der Philharmonie, sondern im Jazzkeller Quasimodo. Peter Schulze, im dritten Jahr Programmverantwortlicher des Berliner Jazzfestes und ehemals Jazz-, Rock- und Popredakteur bei Radio Bremen, schlägt heute groß auf, indem er erstmal zurückblättert in der Enzyklopädie des Jazz.

Peter Schulze: "Es hat eine wichtige Funktion während der sechziger Jahre gehabt als indielabel. Vor allem Joachim Ernst Berendt, der Gründer der Berliner Jazztage war Produzent gewesen bei MPS und das macht in einem Berliner Zusammenhang einen wichtigen Bezug. "

Ein Wiederhören gibt es ebenfalls mit dem Bassisten Charlie Haden und dessen Bigband mit dem programmatischen Namen: "Liberation music orchestra" - immer dann, wenn gesellschaftliche Entwicklungen politsich motivierte künstlerische Statements geradezu herausfordern, formiert sich das Liberation music orchestra und veröffentlicht Schallplatten von nachgerade historischem Rang.

Charlie Haden: "Ich bin nicht militant, ich bin Musiker, also spiele ich Musik und mache Schallplatten. Verändert hat sich überhaupt nichts, es ist im Gegenteil noch schlimmer geworden: Wir haben einen Präsidenten, der einen Iq von 80 hat: nicht einmal einen vernünftigen Satz bringt er zustande, wenn nicht ein anderer es für ihn tut. Ich bin noch immer sehr darum bemüht, die Verhältnisse zu durchschauen und gegebenenfalls mit meiner Musik darauf zu reagieren . Das ist eher ein stiller Protest. Es gibt natürlich viele Musiker, die überhaupt nicht über Politik oder über Spiritualität nachdenken, denen genügt es, ein hippes Stück zu spielen, aber meine Studenten an der callords universität lernen bei mir etwas über die Spiritualität der Improvisation, und das sind 85 Prozent des Lehrstoffs."


Peter Schulze: "Als Charlie Haden mich anrief und sagte: 'Hey Mann, ich möchte gern bei deinem Festival auftreten, ich hab 'ne neue platte', das sagte ich ihm: 'Hey Charlie, das ist aber bisschen spät, das Programm steht schon, aber ich schau mal, was sich machen lässt ... dann dachte ich darüber nach, und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir: Das ist genau der Stein in meinem Mosaik, der noch fehlt."

Der Sardische Saxophonist Enzo Favata, der türkische Klarinettist Hüsnü Selendirici, das Multikultimigrantenorchestra di piazza vittorio aus Rom, der brasilianische Multiinstrumentalist Hermeto Pascoal, der holländische Hyperschlagwerker Han Bennink. Jede musikalische Farbe gerinnt zunehmend wieder zu einem politischen Statement, zum Ausdruck einer persönlichen Musizierhaltung, an der der Wert von Musik als Kunst festgemacht werden kann: Dies genau war stets die Intention des "Total music meetings", jener initiative der Free music production - dem in Berlin ansässigen, dienstältesten Schallplattenlabel für improvisierte Musik.

Das Programm macht Punkte und Linien in einem Prozess bewusst. Seit 2000 gestaltet Helma Schleif die Geschicke der Free music production , und damit auch das Programm des "Total music meetings".

Helma Schleif: "Wir versuchen, das "Total music meeting" beim Wort zu nehmen und es in einem umfassenen Sinne total zu machen, indem wir die Musizierpraxis zeigen und gleichzeitig über lectures, Podiumsdiuskussionen und Ausstellungen einen Theorieteil haben, der nicht sehr akademisch daherkommen muss, .. es sollte auch eine Schule des Sehens und Hörens sein."

Während der renommierte Bluesenzyklopäd Karl Gert zur Heide im Rahmen des Jazzfestes über den Zusammenhang von Ragtime mit den türkischen Raks (einer Bauchtanzvariante) räsonniert - der Pianist des DDR-Zentralquartetts Ulrich Gumpert den Albert-Mangelsdorff-Jazzpreis erhält, pinselt Professor Markus Lüppertz pianistische Girlanden in die Berlinische Galerie, trommelt der Trommler des DDR-Zentralquartetts, Professor Günter Baby Sommer, und philosophiert der Komponist Hans Joachim Hespos über klaffende Leere (für einen Schlagwerker und Maerialsack ) - die Pilgerfaht nach Berlin lohnt also noch bis Sonntag.

Deutschlandradio Kultur überträgt das Eröffnungskonzert des Jazzfestivals am 3. November ab 20.03 Uhr live.

Deutschlandradio Kultur: Jazz im November
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