Virtuelle Flaneure
Der Foto-Text-Band „Unterwegs“ führt in die großen Städte rund um den Globus. Die Fotografin Susanne Schleyer hat hier Momentaufnahmen festgehalten. Inspiriert von den Fotografien haben sich Autorinnen und Autoren an die Arbeit gemacht, deren Erzählungen mit den Bildern korrespondieren.
„Suchet nicht, so werdet ihr finden. Nur was uns anschaut, sehen wir.“
Franz Hessel
Die Fotografin Susanne Schleyer, geboren in Thüringen, lebt in Berlin. Sie hat dort studiert und Anfang der 1990er Jahre den legendären Galrev Verlag mitgegründet. Einen Namen machte sie sich mit Ausstellungsprojekten zur deutschen Geschichte und zahlreichen Autorenporträts. Sie arbeitet für Verlage und Zeitungen. Ist in der Regel gezwungen, Worte zu illustrieren und Vorgaben zu erfüllen.
Im Umkehrverfahren dieser Arbeitssituation erhielten zwölf Autoren von Susanne Schleyer Fotos aus zwölf Metropolen. Verbunden mit der Bitte, sich inspirieren zu lassen und aus den Fotos eine Geschichte zu entwickeln.
Entstanden sind die Fotos auf Reisen. Längere Arbeitsaufenthalte führten Susanne Schleyer nach San Francisco, Sankt Petersburg, Buenos Aires oder Amsterdam. Immer auch nutzte sie die Gelegenheit zu fotografieren. Sie hielt fest, was sie fand: aufmerksam, ahnungsvoll, im Vorbeigehen. Narrative Fotos entstanden, ohne Hinblick auf einen Gesamtzusammenhang oder direkte Verwertbarkeit, scheinbar alltägliche Eindrücke des Lebens, von Menschen und Räumen, von Details auf einem gedeckten Tisch, von der Struktur einer Tapete, dem scheuen Lachen eines Arbeiters.
In den 1920er Jahren entwickelte Franz Hessel eine Poetik des Sehens. Sein Ideal: der Flaneur als Medium der Wahrnehmung, einer, der seine Stadt und Umgebung zu „lesen“ vermag, dessen Erkenntnisse sich beiläufig ergeben, fernab von gezieltem Suchen oder gar einem Auftrag.
Susanne Schleyer kommt mit ihren Fotos der Forderung Franz Hessels nach. Was er für den flanierenden Schriftsteller propagierte, setzt sie mit der Kamera um: sehen, was einen anschaut. Je länger man ihre Aufnahmen betrachtet, desto vielsagender werden sie in ihrer Zusammenhangslosigkeit. Sie bilden Realität nicht ab, wie es Pressefotografie tut, haben keine Message. Sind nicht digital, auch keine touristischen Schnappschüsse, sondern geben sich preis, wenn man sie nur hingebungsvoll betrachtet.
Die zwölf Autoren und Autorinnen haben das getan. Das Erzählerische der Fotos erkannt und entwickelt. Der Text- und Bildband „Unterwegs“ versammelt unterschiedlichste Geschichten, mehr oder weniger dicht an Schleyers Fotos entlang erzählt.
Katharina Hacker schickt in ihrem Text die Fotos aus Jerusalem selbst auf die Reise. Daniel Kehlmann inspiriert die Abbildung der Wiener U-Bahn-Gleise zu einer Geschichte über den Punkt, an dem sich Leben und Tod wie Parallelen in der Unendlichkeit treffen.
Alban Nikolai Herbst animiert die Rückenansicht einer Frau in Buenos Aires zu einer leidenschaftlichen Bluttat. Tod auch in Venedig, Joachim Helfer weiß davon zu berichten. Tanja Dückers lässt einen Frischverliebten in San Francisco fremdgehen, animiert von glänzender Haut im Neon Licht einer Hot-Dog- Bude. Auf dem dazu gehörigen Foto Susanne Schleyers ist der Raum nur zu erahnen.
Das macht Geschichten und Fotos spannend: Sie berühren sich, ohne sich zu illustrieren. Es bleibt genug Freiraum für Leser- und Betrachterfantasie, um sich eine eigene Geschichte einfallen zu lassen. Was unweigerlich geschieht. „Unterwegs“ ist ein interaktives Reiseerlebnis in Schwarz-Weiß.
Susanne Schleyer (Fotos): „Unterwegs“
Mit Erzählungen von u.a. Tanja Dückers, Katharina Hacker, Joachim Helfer, Daniel Kehlmann, David Wagner.
Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2005, 22€.
Franz Hessel
Die Fotografin Susanne Schleyer, geboren in Thüringen, lebt in Berlin. Sie hat dort studiert und Anfang der 1990er Jahre den legendären Galrev Verlag mitgegründet. Einen Namen machte sie sich mit Ausstellungsprojekten zur deutschen Geschichte und zahlreichen Autorenporträts. Sie arbeitet für Verlage und Zeitungen. Ist in der Regel gezwungen, Worte zu illustrieren und Vorgaben zu erfüllen.
Im Umkehrverfahren dieser Arbeitssituation erhielten zwölf Autoren von Susanne Schleyer Fotos aus zwölf Metropolen. Verbunden mit der Bitte, sich inspirieren zu lassen und aus den Fotos eine Geschichte zu entwickeln.
Entstanden sind die Fotos auf Reisen. Längere Arbeitsaufenthalte führten Susanne Schleyer nach San Francisco, Sankt Petersburg, Buenos Aires oder Amsterdam. Immer auch nutzte sie die Gelegenheit zu fotografieren. Sie hielt fest, was sie fand: aufmerksam, ahnungsvoll, im Vorbeigehen. Narrative Fotos entstanden, ohne Hinblick auf einen Gesamtzusammenhang oder direkte Verwertbarkeit, scheinbar alltägliche Eindrücke des Lebens, von Menschen und Räumen, von Details auf einem gedeckten Tisch, von der Struktur einer Tapete, dem scheuen Lachen eines Arbeiters.
In den 1920er Jahren entwickelte Franz Hessel eine Poetik des Sehens. Sein Ideal: der Flaneur als Medium der Wahrnehmung, einer, der seine Stadt und Umgebung zu „lesen“ vermag, dessen Erkenntnisse sich beiläufig ergeben, fernab von gezieltem Suchen oder gar einem Auftrag.
Susanne Schleyer kommt mit ihren Fotos der Forderung Franz Hessels nach. Was er für den flanierenden Schriftsteller propagierte, setzt sie mit der Kamera um: sehen, was einen anschaut. Je länger man ihre Aufnahmen betrachtet, desto vielsagender werden sie in ihrer Zusammenhangslosigkeit. Sie bilden Realität nicht ab, wie es Pressefotografie tut, haben keine Message. Sind nicht digital, auch keine touristischen Schnappschüsse, sondern geben sich preis, wenn man sie nur hingebungsvoll betrachtet.
Die zwölf Autoren und Autorinnen haben das getan. Das Erzählerische der Fotos erkannt und entwickelt. Der Text- und Bildband „Unterwegs“ versammelt unterschiedlichste Geschichten, mehr oder weniger dicht an Schleyers Fotos entlang erzählt.
Katharina Hacker schickt in ihrem Text die Fotos aus Jerusalem selbst auf die Reise. Daniel Kehlmann inspiriert die Abbildung der Wiener U-Bahn-Gleise zu einer Geschichte über den Punkt, an dem sich Leben und Tod wie Parallelen in der Unendlichkeit treffen.
Alban Nikolai Herbst animiert die Rückenansicht einer Frau in Buenos Aires zu einer leidenschaftlichen Bluttat. Tod auch in Venedig, Joachim Helfer weiß davon zu berichten. Tanja Dückers lässt einen Frischverliebten in San Francisco fremdgehen, animiert von glänzender Haut im Neon Licht einer Hot-Dog- Bude. Auf dem dazu gehörigen Foto Susanne Schleyers ist der Raum nur zu erahnen.
Das macht Geschichten und Fotos spannend: Sie berühren sich, ohne sich zu illustrieren. Es bleibt genug Freiraum für Leser- und Betrachterfantasie, um sich eine eigene Geschichte einfallen zu lassen. Was unweigerlich geschieht. „Unterwegs“ ist ein interaktives Reiseerlebnis in Schwarz-Weiß.
Susanne Schleyer (Fotos): „Unterwegs“
Mit Erzählungen von u.a. Tanja Dückers, Katharina Hacker, Joachim Helfer, Daniel Kehlmann, David Wagner.
Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2005, 22€.