Virtuelle Botanik

Computer-Botanik und ihre Vorgeschichte

Ein Mammutbaum von unten nach oben fotografiert.
Diesen Mammutbaum müsste der Betrachter noch selbst hochklettern. Bei virtuellen Pflanzen geht das mit wenigen Mausklicken. © dpa/ picture-alliance/ Horst Ossinger
Von Frank Kaspar · 09.06.2016
Ihr Metier sind Bäume, die man sehen, aber nicht anfassen kann: Philip Paar und Tim Dapper entwickeln virtuelle 3-D-Modelle von Pflanzen. Botanische Modelle haben eine lange Geschichte – und stehen heute in den unterschiedlichsten Disziplinen hoch im Kurs: bei Architekten, Filmemachern oder Spiel-Entwicklern ebenso wie in Agrar- und Biowissenschaften.
In diesem Glashaus geht es ganz von selbst hinauf bis in die Wipfel. Eine Art Achterbahn schraubt sich in die Höhe und umkreist ein Ensemble mächtiger Bäume. Wie in Zeitlupe gleiten die Besucher an ihnen vorüber, wenn sie eine spezielle 3D-Brille aufsetzen, um in diese Welt einzutauchen.
"Das Besondere ist bei diesem Exponat, dass wir hier eine Game Engine benutzt haben, und die Bilder, die an die 3-D-Brille geschickt werden, die werden in Echtzeit berechnet."
Denn der Küstenmammutbaum, der Rieseneukalyptus, der tropische Kapok und die anderen Bäume existieren nur im Computer. Philip Paar hat dieses virtuelle Gewächshaus mit seiner Firma "Laubwerk" für das Botanische Museum in Berlin entwickelt. Die realistische Darstellung von Pflanzen stellt Designer und Programmierer vor besondere Herauforderungen, sagt Paar.
"Es sind organische Formen, es ist nicht so wie bei einem Architektur-Entwurf, wo man überwiegend rechte Winkel hat und gerade Flächen. Das heißt, wir haben dann hier eben auch mit Brechungen, Lichtbrechungen zu tun, Licht überzeugend zu simulieren, zum Beispiel so ein Phänomen wie die Transluzenz, dass Blätter dann anfangen, fast zu glühen, wenn von hinten Licht drauf scheint. Und wenn man dann den Baum auch animiert, zum Beispiel im Wind, wenn man es gut macht, belebt das so eine Szenerie ungemein. Auf einmal ist es nicht mehr nur ein Bild, sondern es entsteht ein realer Landschafts-Eindruck."

Architektur-Büros und Filmemacher nutzen die Pflanzen-Modelle

Philip Paar ist von Hause aus Landschaftsplaner. Zusammen mit dem Software-Entwickler Tim Dapper gründete er 2010 die Firma "Laubwerk", um virtuelle botanische Modelle auf den Markt zu bringen. Ein Nischenprodukt. Aber der Bedarf an solchen Modellen wächst. Paar und Dapper beliefern vor allem Architektur-Büros und Filmemacher. Aber auch land- und forstwirtschaftliche Forschungsinstitute arbeiten mit Pflanzenmodellen aus dem Computer.
Völlig neu ist die Idee der virtuellen Landschaft freilich nicht. Wer aus dem Museum ins Freie tritt, befindet sich ebenfalls in einer künstlichen Welt, sagt Gesche Hohlstein vom Botanischen Garten Berlin.
"Der Garten hier ist eine absolute Fiktion. Es ist ein Modell, hier im Freiland, der nördlichen Halbkugel unserer Erde."
Adolf Engler, der Gründungsdirektor, wollte "Die Welt in einem Garten" zeigen. Ende des 19. Jahrhunderts konzipierte er den wissenschaftlichen Landschaftspark als begehbare Landkarte.
"Man beklettert hier den Himalaja, ohne Höhenkrankheit zu bekommen, dann springt man über die Beringstraße und kann durch die Prärie wandern man kann die Alpen erwandern und kann dann durch die Wüste gehen und durch den Regenwald und um die Kanarischen Inseln. Das Ganze ist also eine unglaublich reizvolle Möglichkeit, mit wenigen Schritten einmal botanisch die Welt zu umrunden."
Botanische Modelle habe eine lange Tradition. Nachbildungen von Früchten aus Keramik gab es schon im Alten Ägypten. Im 18. und 19. Jahrhundert dienten handkolorierte Äpfel und Birnen aus Wachs und Porzellan als Anschauungsmaterial für die Ausbildung von Obstbauern, erklärt die Leiterin des Botanischen Museums, Kathrin Grotz. Naturgetreu bemalte Trockenpräparate von Pantherpilz, Schwefelkopf oder Grünem Knollenblätterpilz hatten noch zur Zeit unserer Großeltern viele Hausärzte in ihrem "Giftschrank", sagt Grotz.
"Weil natürlich ein Vergiftungsopfer nicht unbedingt immer den Namen des Pilzes, den er oder sie genommen hat, kennt, ist es natürlich ganz interessant und wichtig, wenn man eine Gegentherapie machen möchte, dass da eben gezeigt werden konnte, was man gegessen hatte, und das zu einer Zeit, wo es eben keine Farbfotos gab. Man kann vielleicht sagen, solche Modelle, wenn man sie so verwendet hat, waren vielleicht auch die Apps des 18. und 19. Jahrhunderts. Heute würde man vielleicht, wenn man eine Vergiftung hat, den i-Pad oder ähnliches zu Rate ziehen und sich dort optische Erkennungshilfen suchen."
Virtuellen 3-D-Modelle von heute werden weitgehend am Computer erstellt. Aber das allein bringt meist noch kein überzeugendes Ergebnis, sagt Philip Paar. Deshalb kommt zusätzlich Handarbeit ins Spiel.
"Wir studieren tatsächlich Pflanzen im Gelände, wir fotografieren sie, wir machen Skizzen, und erstellen dann in einem weiteren Schritt erst mal ein 3-D-Modell, was man beispielsweise als Dreiecks-Modell, als Oberflächenmodell im Computer darstellen kann. Und auf diese Oberflächen tragen wir dann Materialien auf. Und diese Materialien bestehen u. a. aus Fotomaterial, was beispielsweise die Borke oder die Rückseite von Blättern oder die Vorderseite oder bestimmte Effekte auch simulieren wie diesen Durchschein-Effekt, die "Transluzenz"."

Unser Auge ist verwöhnt von Computerspielen

Bei "Laubwerk" geht es um den schönen Schein. Unser Auge ist verwöhnt von Kino und Computerspielen. Deshalb kann auch ein Architekt nicht mehr überzeugen, wenn er Laub- und Nadelbäume in seinen Entwürfen schlicht durch Kreis- und Dreiecks-Symbole darstellt. Da wollen Lichter gesetzt und Zweige im Wind bewegt werden.
Aber unter der täuschenden Oberfläche sind Algorithmen am Werk, die aus ganz anderen Zusammenhängen stammen. Zum Beispiel aus einer französischen Studie, die klären sollte, weshalb die Sträucher einer viel versprechenden Kaffeesorte regelmäßig vor der Ernte eingingen. Um das herauszufinden, simulierten die Forscher das Wachstum der Pflanzen im Computer.
"Und was kam raus?"
"Es ist einfach die Schwerkraft: Die Kaffeebohnen waren so üppig, so überdimensioniert, dass die Pflanze es einfach nicht aushalten konnte, statisch."
Gut für die Gestalter, die die Software weiter verwenden, damit ihre Bäume im Wind glaubwürdiger schwanken. Fragt sich nur, wohin es eigentlich führt, wenn Forscher die Botanik bald nur noch durch die Brille ihrer Daten sehen. War es allen ernstes nötig, die Statik überladener Kaffeesträucher zu berechnen? Oder wäre die Frage nicht schneller zu klären gewesen, wenn einfach einmal jemand draußen auf dem Feld nachgesehen hätte, was da los ist?
Mehr zum Thema