Virologen und Wissenschaftskritik

Weder Wahrheitsverkünder noch Lügenbarone

04:32 Minuten
Probenahme und Durchführung des Covid19 IGM-IgG-Schnelltests an Vollblut und Serum im virologischen Labor in St.Etienne.
Die Wissenschaft müsse sich an den Halbwertszeiten ihrer Aussagen messen lassen, so Christian Schüle. © laif/ REA/ Vincent Poillet
Ein Kommentar von Christian Schüle · 09.06.2020
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Seit Beginn der Pandemie stehen Wissenschaftler im Mittelpunkt des Interesses. Erst waren sie Autoritäten, dann Ziel heftigster Angriffe. Beides ist falsch und zeugt von einem naiven Wissenschaftsverständnis, meint der Autor Christian Schüle.
Vor Kurzem noch konnte man den Eindruck haben, "Wissen" und "Wissenschaft" hätten in einer Gesellschaft mit gestörter Affektkontrolle kaum noch Aktien. Das lange Zeit gültige, auf Empirie, Evidenz und Rationalität basierende Weltbild schien zunehmend in Bedrängnis zu kommen.
Die Emotionalisierung des Politischen durch permanente Empörung, Hass, Wut und sozialmediale Dauererregung hatte die Kausalität von Wahrheit und Lüge, Ursache und Wirkung verdreht – und die Vision von der ´Wissensgesellschaft` letztlich ad absurdum geführt.

Sehnsucht, Verklärung und Verachtung

Der Weg von der Verunglimpfung wissenschaftlicher Erkenntnisse als "Lügenwissenschaft" in vorcoronischer Zeit bis zur vorübergehenden Wissenschaftshörigkeit in der Schockstarre der vergangenen Wochen war verstörend kurz. Plötzlich hatte jede Silbe der staatstragenden Epidemiologen größten Einfluss auf die kollektive Psyche einer ganzen Bevölkerung. Doch seit kurzem mischt sich in die Sehnsucht des Bürgers nach Absolution durch absolute Gewissheit die Furcht vor einer Verabsolutierung des Wissens als Grundlage politischer Entscheidungen.
Beides, Sehnsucht und Furcht wie Verklärung und Verachtung, sind höchst problematisch und führen unter anderem dazu, dass sich in die Reihe abenteuerlicher Katastrophenleugnungen gerade eine weitere fügt. Nun gibt es – ohne sie im Entferntesten vergleichen zu wollen – neben Holocaust-Leugnern und Klimawandel-Leugnern auch Corona-Leugner.
Mündige und verstandesfähige Mitbürger halten das, was zigfach, durch zahlreiche internationale Quellen stichhaltig belegt und beglaubigt ist, für erfunden. Sie leugnen, was sie entweder nicht wahrhaben wollen oder in seiner gigantischen Dimension nicht erfassen können.

Wissenschaft ist ein langjähriger Lernprozess

"Wissen" bedeutet auch in Zeiten einer präzedenzfalllosen Pandemie nichts anderes als Erkennen des Nichtwissens. Wissen wird immer erst rückblickend gewonnen. Und Wissenschaft ist und bleibt temporäre Erkenntnissicherung durch Falsifizierung. Seit Jahrhunderten ist das ein mühsamer wie langwieriger Lern- und Problemlösungsprozess: über Vermuten, Beobachten, Ausschließen, Verwerfen oder Bestätigen geht es im besten Falle Schritt für Schritt hinauf zu einer Gewissheit, die solange Geltung hat, bis eine veränderte Ausgangslage zur Revision zwingt.

Der Wert der Wissenschaft für die Gesellschaft besteht also nicht in Prophetie und Erlösung, sondern in der Halbwertszeit ihrer Aussagen: nichts ist ohne Voraussetzung wahr, nichts absolut gegeben, nichts auf ewig verlässlich. Wissen ist immer vorläufig. Nur durchtreibende Neugier und ständige Überprüfung ist Erkenntnisfortschritt überhaupt möglich. Profunde Wissensermittlung braucht also Zeit, Geduld und Augenmaß. Die jetzt enttäuschten der vorher überzüchteten Erwartungen zeigen, dass von Wissenschaft in kürzester Zeit konfektionierte Lösungen erwartet wurden, die sie niemals leisten kann.

Enorme Leistung der Virologen

Trotz zwangsläufig unsicherer Zahlen, widersprüchlicher Aussagen und uneinheitlicher Methodik haben die bisher weitgehend unbekannten Virologen im Scheinwerferlicht des medialen Circus Maximus der vergangenen drei Monate Enormes geleistet – unaufgeregt, besonnen und ohne Rampensaueitelkeit.
Man kann es gerade dieser Tage nicht oft genug betonen: Seriosität besteht darin, die eigenen Grenzen mitzudenken, Fehleinschätzungen zuzugeben und sich als dynamisch und lernbereit zu verstehen. Rechthaber und Besserwisser, die nach eindeutigen Prognosen, passgenauen Aussagen und simplen Schuldzuweisungen gieren, tun sich freilich schwer mit Menschen, die eingestehen, dass sie irren und zweifeln, und die es zum Prinzip erklären, erst einmal in Ruhe nachlesen zu müssen. Wir sollten ihnen, den Wissenschaftlern und der Wissenschaft, durchaus danken, den Glauben an die Glaubwürdigkeit des Wissens wieder zurück gebracht zu haben.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat.

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