Ende des Vietnamkriegs

So prägte der Vietnamkrieg das Leben meiner Familie

Ein vietnamesisches Märtyrerdenkmal auf einem Heldenfriedhof für die vietnamesischen Gefallenen des Vietnamkrieges in Can Tho. Die Statue einer Frau hält ein Tuch über ihrem Kopf. Darunter die Statue eines Mannes in Soldaten-Uniform mit Hut und Waffe.
Befreiung von ausländischer Fremdherrschaft: In Vietnam wird der Sieg über die Weltmacht USA im Vietnamkrieg als Heldengeschichte erzählt © imago images / Stefan Trappe
Von Thuy-An Nguyen |
Meine Eltern flohen nach dem Krieg aus ihrem Heimatland Vietnam. Später sprachen sie so gut wie nie über ihre Kindheit, geschweige denn über ihre Flucht. Erst als ich erwachsen war, öffnete sich meine Mutter plötzlich beim Mittagessen.
Ein schweres Gefühl regt sich in meiner Brust. Es ist befremdlich, vom Ende eines Krieges zu lesen, der so viel älter ist als ich und sich in einem Land abspielte, das ich nur zweimal in meinem Leben besucht habe. Andererseits ist mir bewusst: Die Folgen des Vietnamkrieges haben sich in meine Familiengeschichte eingegraben. Ohne diese würde ich nicht existieren.
Vor 50 Jahren - am 30. April 1975 - endete der Vietnamkrieg. Der Jahrestag bleibt mir fern und geht mir doch nah.
Ich bin ein Kind zweier vietnamesischer Geflüchteter, die Anfang der 1980er-Jahre das wiedervereinigte Vietnam verließen und in Deutschland eine neue Heimat fanden. Das Herkunftsland meiner Eltern war zu dem Zeitpunkt gebeutelt von den Folgen jahrzehntelang andauernder Kriege.
Die Familien meiner Eltern lebten im Süden Vietnams und meine Eltern wuchsen als Kinder mit dem Krieg auf. Als die US-Amerikaner am 2. März 1965 mit der Operation „Rolling Thunder“ die systematische Bombardierung Nordvietnams begannen und damit offiziell in den Vietnamkrieg eintraten, war mein Vater sieben Jahre alt und meine Mutter gerade mal zwei.

Das Ziel meiner Eltern: Amerika

Mein Vater wurde in Dat Do geboren, meine Mutter in Ba Ria. Meine Eltern gehörten zu den Millionen Vietnamesen, die vor dem kommunistischen Regime flüchteten, das nach dem gewonnenen Krieg die Macht im wiedervereinigten Land übernahm. Diese wurden in der westlichen Welt auch Boatpeople genannt. Vor allem Vietnamesen aus dem Süden flüchteten in Folge des Krieges, weil sie als frühere Verbündete der US-Amerikaner Repressalien fürchteten: Verfolgung, Drangsalierung, Umerziehungslager oder Schlimmeres. So auch meine Eltern. Ihr Ziel war Amerika — oder zumindest die westliche Welt.
Wären meine Eltern in Vietnam geblieben, wären sie sich vielleicht niemals begegnet. Sie trafen sich in einem Flüchtlingsheim in Ostwestfalen. Die Stadt Herford, die mehr als 12.000 Kilometer von den Geburtsorten meiner Eltern entfernt liegt, wurde mein Geburtsort.
Während ich aufwuchs, sprachen meine Eltern so gut wie nie mit mir über die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend, geschweige denn über ihre Flucht. Ich erinnere mich, wie sie mich einmal zu einem Jubiläumstreffen der Hilfsorganisation Cap Anamur in Troisdorf mitnahmen. Ich war um die zehn Jahre alt und hörte den Namen zum ersten Mal. „Die haben uns früher gerettet“, war die einzige Erklärung, die meine Eltern mir gaben. Die Hilfsorganisation Cap Anamur rettete in den 1980ern etwa 10.000 vietnamesische Geflüchtete aus dem Südchinesischen Meer.

Kein Wort über die Strapazen der Flucht

Das Treffen erlebte ich wie viele andere Feste, die ich aus der vietdeutschen Community kannte: ein Wirrwarr aus heiteren und quirligen vietnamesisch sprechenden Menschen. Mittendrin Kinder, die tobten und lachten. Meine Mutter fiel einer alten Freundin in die Arme und stellte sie mir vor: „Deine Tante Thi war mit mir im Aufnahmelager auf den Philippinen!“ Mein Vater lernte seinen besten Freund Hiep in Indonesien kennen, bis heute ein guter Freund der Familie. Worte über die Strapazen ihrer Flucht fielen gegenüber uns Kindern nicht.
Erst viel später, als ich in schon über dreißig war, entfuhren meiner Mutter plötzliche Worte des Erinnerns. Wir saßen zu zweit zum Mittagessen am Tisch, beide mit einer Schüssel Jasminreis und einem Paar Stäbchen in der Hand. Der Tisch war gedeckt mit einem Teller gekochtem Wasserspinat, einem Schüsselchen Nuoc Mam zum Dippen und einer Portion Ca Kho, karamellisierter geschmorter Lachs mit Frühlingszwiebeln.
Eine junge Frau steht im Bochumer Westpark und schaut in die Kamera.
Im Bochumer Westpark: Ich wuchs im Ruhrgebiet auf. Die Heimat meiner Eltern Vietnam besuchte ich zweimal.© Kim Nguyen
Wir sprachen über den neuesten Familienklatsch. Plötzlich kam meine Mutter darauf zu sprechen, wie sie damals aus Vietnam geflohen war. Es war mitten in der Nacht, erzählte sie. Ihre Brüder trommelten aufgeregt den Rest der Familie zusammen: Schwestern, Schwägerinnen und kleine Kinder, die im Haus der Großeltern auf dem Boden oder in Hängematten schliefen. In Aufruhr machten sie sich auf den Weg zur Meeresküste, ohne Hab und Gut, ohne Papiere. Ausgebaute Straßen existierten damals nicht, der Fluchtweg führte durch Pfade im wildgrünen Dickicht des düsteren Tropenwaldes.

Flucht im morschen Holzboot

Als sie an die Küste kamen, lagen dort mehrere Boote aus morschem, klapprigem Holz. Menschenmengen um sie herum versuchten, sich in diese hineinzupressen. Um Platz zu finden, musste meine Familie sich aufteilen. Meine Mutter schaffte es, mit einem Bruder, der Schwägerin und Nichte einen der begehrten Plätze in den Booten zu ergattern, die sie gen Freiheit bringen sollten. Mindestens hundert Menschen saßen mit ihr im Boot, aneinander gequetscht, als es in die tiefdunklen Weiten des brausenden Ozeans aufbrach. Sie habe so viel Angst gehabt, dass sie heute gar nicht mehr wisse, wie sie das überhaupt tun konnte. „Das würde ich nicht noch einmal machen“, sagte meine Mutter und lachte.
Ich war perplex, dass sie diese Erinnerung so unbekümmert mit mir teilte. Die Bilder, die sie in meinem inneren Auge hervorrief, versetzten meinem Herz ein paar Hiebe. Gleichzeitig war ich meiner Mutter dankbar, dass sie sich geöffnet hatte und ich ihr näherkam. Anekdoten wie diese lassen mich nur erahnen, was das Aufwachsen mit den Folgen des Krieges und der Flucht mit meinen Eltern gemacht haben muss.
Viele vietnamesische Eingewanderte der ersten Generation leiden unter Traumata, die sie niemals aufgearbeitet haben. Oft mangelt es an Therapieangeboten, nicht zuletzt aufgrund von Sprachbarrieren. Die Aufarbeitung von psychisch belastenden Erlebnissen bleibt deswegen ein Luxus, an dem Geflüchtete wie meine Eltern nicht teilhaben können.

Hungersnot unter kommunistischer Partei

Bis dahin hatte ich das meiste, was ich über den Vietnamkrieg wusste, selbst herausgefunden: Ich verschlang Bücher, schaute mir Dokus an. Damals las ich auch über die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung Vietnams: Die zentral gelenkte Planwirtschaft des Landes, das mit einem Wirtschaftsembargo der USA belegt war, führte zu Missernten und stürzte das Land in eine große Hungersnot.
Manche Angewohnheiten meiner Mutter erscheinen mir nun in einem anderen Licht: In ihrem Haus wird so gut wie nie Essen weggeschmissen. Reisreste bewahrt sie in einer Schüssel im Kühlschrank auf. Am Ende der Woche sammelt sich so viel an, dass sie daraus neue Mahlzeiten für mehrere Personen zubereiten kann. Es ist eine Angewohnheit, die ich von klein auf kenne - und heute selbst übernommen habe.
Ich bin aufgewachsen in einem Land mit Wohlstand und hohem Lebensstandard. Anders als meine Eltern musste ich mir nie Sorgen machen, ob genug Essen da ist. Meine Ansichten sind dem Zeitgeist einer Generation entsprungen, die jahrzehntelang Wohlstand und Frieden genießen durfte: Ich esse weniger Fleisch, verzichte auf Zucker und koche Naturreis. Für meine Mutter dagegen gibt es keine anständige Mahlzeit ohne Fleisch und weißen Jasmin Duftreis. Erst die Zugabe von Zucker macht Speisen aus ihrer Sicht vollmundig.

Ein Stellvertreterkrieg des Kalten Krieges

Gefühlt lebe ich in zwei Welten und das Balancieren zwischen diesen ist Teil meiner Identität geworden. Meine Familie kommt aus einfachen Verhältnissen, meist ohne hohe Bildungsabschlüsse in der ersten Generation.
Die Ansichten meiner Familie spiegeln bis heute die politischen Bündnisse im damaligen Vietnamkrieg wider. Es fallen immer wieder beiläufige Aussagen, wie: die Nordvietnamesen seien „komisch“ und China „ganz schlimm“. Es sind Ansichten, die ich heute mit meinem Wissen und Uni-Abschluss anders einordnen kann als früher.
Eine junge Frau spaziert im Vorgarten des Rathauses in Ho-Chi-Minh-Stadt. Das Haus ist ein kolonialer Prunkbau und nächtlich beleuchtet.
2024 reiste ich nach Vietnam und besuchte Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon und Hauptstadt Südvietnams. Das alte Rathaus stammt aus Kolonialzeiten.© privat
Den Vietnamkrieg führte die Weltmacht USA schließlich - verbündet mit Südvietnam - als Kampf gegen den Kommunismus. Ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg.
Der Krieg ging als großer Fehltritt der USA in die Weltgeschichte ein. Zugleich ist mir bewusst, dass meine Familie als vermeintliche „Verbündete des Feindes“ massiv unter den Repressalien der sozialistischen Regierung gelitten hätte, wären sie in dem Land geblieben.
Mein Vater hatte einst seine Geschwister davon überzeugt, aus dem sozialistisch geführten Land zu fliehen. Doch selbst er war nach jahrzehntelangem Leben in Deutschland beeindruckt davon, wie sein altes Heimatland es geschafft hatte, die mächtigen US-Amerikaner in die Knie zu zwingen. „Die haben unterirdische Tunnel gebaut und darin gelebt“, kommentierte er eine Doku über den Vietnamkrieg, die wir eines Abends zusammen anschauten. Sie lief in einem vietnamesischen Fernsehsender. Auf dem Couchtisch hatte er sein abendliches Bier stehen, daneben ein paar geröstete, gesalzene Pistazien.
 „David hat Goliath besiegt“, sagte mein Vater mit einem ungläubigen und doch ehrfürchtigen Kopfschütteln. In seinen Worten schwang ein Hauch von Stolz mit.
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