Vier Mal sieben Jahre

27.08.2009
Ein junger deutscher Schriftsteller sitzt in Taiwan und schaut zurück auf das unbedeutende hessische Dorf Biedenkopf, in dem er geboren und aufgewachsen ist und nennt den Ort in seinem ersten Roman "Bergenstadt".
Das Leben dort ist langweilig, abschreckend kleinbürgerlich, also stinknormal. Abwechslung bringt jedes siebte Jahr der "Grenzgang", ein Fest, das auf ein Brauchtum aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht und seit 1839 in Biedenkopf gefeiert wird. Beim "Grenzgang" verteidigt und festigt die Dorfgemeinschaft ihre Ortsgrenzen gegen die Nachbargemeinden.

Stephan Thome erzählt, was er zu erzählen hat, in einfachen Sätzen und knappen Dialogen. Er lässt sich sehr viel Zeit und dehnt seine alltägliche Geschichte, ihre Zuspitzung und ihre Auflösung. Ihn interessieren die emotionale Hilflosigkeit und das Versagen der Kommunikation. Die individuellen Dramen versickern im Alltag. Die Menschen Bergenstadts sehen aus dem Fenster auf die hessische Ödnis, in der es außer Klatsch und Intrige keine Abwechslung gibt. Vier Mal sieben Jahre vergehen in seinem Roman, vier Mal wird "Grenzgang" gefeiert.

Das Fest ist die Zäsur im Leben der Bergenstädter, der Sieben-Jahres-Rhythmus ist der Rahmen, den Stephan Thome nutzt, um Etappen aus dem Leben einer zerfallenden und einer neu zusammenwachsenden Familie darzustellen, um das Leben von Kerstin, Kerstins Sohn Daniel und Daniels Lehrer Thomas Weidmann, der Kerstins Liebhaber und zweiter Ehemann wird, vorzuführen.

Zu Beginn des Romans hat sich Kerstins erster Mann mit einer anderen Frau abgesetzt, und Kerstin lebt zusammen mit ihrer dementen Mutter und einem pubertierenden Sohn, der zwar ein guter Schüler, aber ein verstockter unberechenbarer Junge ist. Weit weg in Berlin ist zur gleichen Zeit Thomas Weidmann, habilitierter Historiker, in seiner akademischen Karriere gescheitert und kehrt zurück nach Bergenstadt, wo er aufgewachsen ist, wird dort ein verantwortungsvoller Lehrer, lebt allein, chattet im Netz, um sein "Fundament aus Pessimismus" zu verlassen. Ein paar Straßen weiter kämpft Kerstin mit ihrem Alltag, sieht, wie fröhlich ihre Freundinnen leben und ist "innerlich anästhesiert".

Stephan Thome erzählt dieses Stück Prosa mit psychologischer Geduld und Kenntnis der weiblichen Psyche. Er breitet ein bekanntes Milieu und bekannte Konstellationen (Ehe, Ehebruch, Scheidung, Karrieresprung und Ausbruchsversuch) aus, ohne den satirischen Scharfzeichner, mit dem Anna Kathrina Hahn mit ihrer Stuttgarter Milieustudie "Kürzere Tage" begeisterte und ohne Andreas Maiers aufs Groteske zielende Sprachmanier.

Stephan Thome ist kein Denunziant. Er beschreibt das Unsensationelle, den Gefühlsmisstand, die daraus erwachsene emotionale Enge, das ganze bescheidene Leben mit den kleinen Höhepunkten und Zäsuren. Thome hat den Mut, seine Familiengeschichte einigermaßen glimpflich enden zu lassen. Die kranke Mutter ist gestorben, Kerstin hat sich mit Weidmann verheiratet, und Daniel kommt nach einem Studium in den USA mit seiner amerikanischen Freundin zu Besuch. Wieder ist "Grenzgang", wieder sind sieben Jahre vergangen und ist ein kleines Stück bundesrepublikanischer Wirklichkeit Literatur geworden.

Besprochen von Verena Auffermann

Stephan Thome. Grenzgang. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. 2009.
452 Seiten, 22,90 Euro.