Vielvölkerkonflikte als Lemberger Gastronomie-Events

Von Martin Sander · 04.06.2012
Geschichte ist auch im ukrainischen Lemberg längst zum popkulturellen Geschäft geworden: So inszeniert beispielsweise der Inhaber einer Gastronomie-Kette eine seiner Kneipen im Stil einer Höhle der mit Hitler verbündeten ukrainischen Aufstandsarmee im Zweiten Weltkrieg.
Das sogenannte Venezianische Haus am Rynok, dem Marktplatz von Lemberg, stammt aus dem späten 16. Jahrhundert. Damals war die Stadt Teil der polnischen Adelsrepublik. Heute ist im Keller des Hauses ein Restaurant untergebracht. Wer es besuchen will, muss erst an die Tür klopfen und die Losung "Ruhm der Ukraine" rufen. Dann öffnet ein alter Mann mit Gewehr und bietet erst einmal einen Schnaps an. "Kryjivka", auf Deutsch "Versteck", heißt das Etablissement, in dem vor allem Touristen feuchtfröhliche Nächte verbringen.

Die unterirdischen Gewölbe sind mit Waffen und Geräten der UPA, der Ukrainischen Aufständischen Armee bestückt. Die UPA kämpfte im Zweiten Weltkrieg für einen eigenen ukrainischen Staat, kollaborierte zeitweise mit Hitlerdeutschland und bot bis in die Fünfzigerjahre der Sowjetmacht die Stirn, die sich 1945 Lemberg mit der gesamten Westukraine einverleibt hatte. Die "Kryjivka" huldigt dem ukrainischen Nationalismus überhaupt, nicht nur dem UPA-Kampf. Das Lokal ist Teil einer Erlebnisgastronomie mit historischen Themen. Ein findiger Geschäftmann verdient damit seit einigen Jahren viel Geld.

Nicht allen Ukrainern gefällt das Konzept. Der Historiker und Journalist Wassyl Rassewytsch, der auf dem Weg zur Arbeit laufend am Venezianischen Haus mit seiner "Kryjivka" vorbeikommt, empört sich:

"In der Speisekarte von diesem Restaurant steht: 'Koscherer Speck auf Hajdamaken-Art'. Die Hajdamaken, das waren die ukrainischen Aufständischen im 18. Jahrhundert, welche sehr bekannt waren als die größten Antisemiten. Und eine solche Mischung, koscherer Speck, das ist selbstverständlich eine Verspottung der jüdischen Religion und jüdischer Tradition.

Und im Zusammenhang mit Hajdamaken, das ist wirklich eine echte Beleidigung für die Juden. Das lautet gleich so wie koscherer Speck nach SS-Tradition."

Wassyl Rassewytsch ist ein viel beschäftigter Mann Ende 30. Er gehört zu einer Schar von jüngeren ukrainischen Historikern in Lemberg, die ihre Aufgabe darin sehen, die Geschichte der Stadt kritisch zu erforschen. Dabei will Rassewytsch die Bewohner, seit Ende des Zweiten Weltkriegs ganz überwiegend Ukrainer, über die Vielvölkervergangenheit aufklären.

Rassewytsch: "Die heutigen Lemberger, die wissen nicht besonders viel über die Geschichte von Lemberg. Die meinen, dass Lemberg immer eine Hauptstadt des ukrainischen Nationalismus war und dass die Bevölkerung von Lemberg nicht zu 50 Prozent aus Polen und 33 Prozent aus Juden bestand bis 1939. Sondern die sehen diese Stadt immer als eine echt ukrainische Stadt."

Nicht nur im Geschichtsverständnis der Ukrainer sieht Wassyl Rassewytsch Nachholbedarf. Er kritisiert auch polnische Touristen. Oft sind es Lemberger, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Stadt vertrieben wurden oder deren Nachfahren.

Rassewytsch: "Die Stadt Lemberg, das ist ein Nostalgiepunkt für die polnischen Touristen. Seit 20 Jahren besuchen die Polen Lemberg massiv. Die kommen mit ihrem Stadtführer, und zum Beispiel höre ich sehr oft, wenn ich vorbeigehe, wie sie diese Geschichte interpretieren. Die wollen in verschiedenen architektonischen Objekten nur die polnischen Zeichen finden. Und die betrachten diese Stadt nicht multikulturell, nicht ukrainisch, armenisch, jüdisch und so weiter, sondern nur polnisch."

In Lemberg ist in den vergangenen Jahren einiges geschehen, was die einstige Vielfalt im Stadtbild wieder sichtbar macht. Zum Beispiel wurden viele zur Sowjetzeit übertünchte Schriftzüge an Fassaden auf Polnisch, Deutsch oder Jiddisch erneuert. Für den "Kryjivka"-Inhaber Jurij Nazaruk ist die Vielvölkervergangenheit indes eine Geschäftsidee, die dank einer kräftigen Beimengung von Stereotypen floriert. Mittlerweile betreibt er eine ganze Kette von Lokalen in Lemberg.

Nicht weit vom Rynok befindet sich die "Goldene Rose", auch im Besitz von Nazaruk. Es soll eine jüdische Kneipe sein. Das Lokal grenzt an das Grundstück, auf dem die Trümmer der "Goldenen Rose" stehen, einer Synagoge aus dem späten 16. Jahrhundert. Die Deutschen sprengten sie 1942. Auf der Speisekarte des Lokals, das den Namen der "Goldenen Rose" trägt, sind keine Preise verzeichnet.

Rassewytsch: "Das soll diesen Stereotyp bedienen: Mit Juden muss man handeln."

Doch nicht nur das macht Wassyl Rassewytsch zornig. Der Historiker findet das gesamte Konzept der angeblich "Jüdischen" Kneipe abstoßend:

"Da gibt es mehrere solche Momente, welche ich als Antisemitismus betrachte, als reinen Antisemitismus. Es gibt ein Vorwort zu der Speisekarte, und in diesem Vorwort steht geschrieben: Wir haben eine schöne Terrasse, eine schöne Sommerterrasse.

Sie können dort sitzen und die Ruinen der 'Goldenen Rose' genießen. Aber das sind keine antiken Ruinen. Das ist ein Symbol für Holocaust. Und selbstverständlich kann man Symbole für den Holocaust nicht genießen."

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