„Vielfalt der Schülerschaft bewirkt verbessertes Sozialverhalten“

Moderation: Holger Hettinger |
Wolfgang Meyer-Hesemann, Staatssekretär im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium, plädiert angesichts des demographischen Wandels in Deutschland für eine vermehrte Einführung von so genannten Gemeinschaftsschulen. Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, verlangte dagegen mehr individuelle Förderung an den vorhandenen Schulen.
Holger Hettinger: Schönen guten Morgen, meine Herren.

Heinz-Peter Meidinger: Guten Morgen.

Wolfgang Meyer-Hesemann: Guten Morgen.

Hettinger: Herr Meyer-Hesemann, welche konkreten Vorteile sehen Sie im gemeinsamen Lernen in der Gemeinschaftsschule?

Meyer-Hesemann: Wir sind davon überzeugt, dass durch das längere gemeinsame Lernen in der Gemeinschaftsschule wir mehr Bildungschancen für mehr Kinder realisieren können und zugleich natürlich auch gute Bildungsqualität hinterlassen können.

Hettinger: Herr Meidinger, das klingt sehr griffig, das klingt sehr plausibel. Was sagen Sie als Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes zu dieser Position?

Meidinger: Das, was Herr Meyer-Hesemann jetzt gesagt hat, ist natürlich ein Versprechen auf die Zukunft, das ist Theorie, das ist politische Absichtserklärung. Wir haben in Deutschland Erfahrungen mit Gemeinschaftsschulen, nämlich mit der Gesamtschule, und deren realistische Ergebnisse, deren praktische Ergebnisse sahen natürlich ganz anders aus.

Hettinger: Herr Meyer-Hesemann, kann man das vergleichen, Gesamtschule und die Gemeinschaftsschule? Eigentlich geht die ja die Gemeinschaftsschule noch mal einen Schritt weiter als die Gesamtschule. Bei der Gesamtschule war es ja so, da war das Gemeinsame der Schulhof und der Lehrerparkplatz, bei der Gemeinschaftsschule geht es wirklich um gemeinsames Lernen in einem Klassenzimmer. Wenn Herr Meidinger sagt, Gesamtschule hat schon nicht funktioniert, wie soll dann die Gemeinschaftsschule funktionieren?

Meyer-Hesemann: Bei der Gesamtschule gab es natürlich mehr als nur den gemeinsamen Lehrerparkplatz, sondern da gab es, gerade da, wo sie konzeptgerecht gearbeitet hat, schon in einem hohen Maße längeres gemeinsames Lernen. Allerdings gab es Vorgaben der Kultusministerkonferenz, wann bestimmte Differenzierungen in Leistungsniveaus erfolgen müssen. Das wird es übrigens auch in der Gemeinschaftsschule geben. Es wird nicht so sein, dass in der Gemeinschaftsschule einfach von der fünften bis zu zehnten Klasse völlig unterschiedslos in einer Lerngruppe die Kinder zusammen bleiben, sondern auch eine Differenzierung nach Leistungsniveaus wird möglich sein.

Im Übrigen ist es keineswegs so, dass die Gesamtschulen durchgängig Leistungsprobleme darstellen würden, sondern wir in Schleswig-Holstein zum Beispiel haben ganz positive Erfahrungen mit den Gesamtschulen gemacht. Sie entwickeln sich durchaus entsprechend den Schulen des gegliederten Systems. Ich glaube, es hängt sehr stark davon ab, wo Gesamtschulen damals gegründet worden sind, ob sie in sehr starker Konkurrenz zum gegliederten System arbeiten mussten, und welche Unterstützung sie auch erhalten haben.

Hettinger: Diese Unterstützung soll ja recht ausgeprägt sein bei der Gemeinschaftsschule. Da gibt es Projekte, Kurse, Kleingruppen im Klassenverbund, Wochenpläne. Das klingt erstmal sehr schön. Aber der Unterricht sieht doch oft so aus, dass 30 Rabauken in der Klasse sind, vorne steht ein Lehrer, der froh ist, wenn er das nackte Leben hat. Ist das Prinzip Gemeinschaftsschule gerade in Bezug auf die schulische Praxis nicht etwas arg optimistisch gedacht, Herr Meyer-Hesemann?

Meyer-Hesemann: Also, 30 Kinder und dann noch Rabauken in der Klasse, das ist natürlich nicht die Schulwirklichkeit. Wir haben in Schleswig-Holstein Klassengrößen in der Sekundarstufe I, in denen etwa im Durchschnitt 25 Kinder maximal, in etlichen Schullagen sogar darunter, in der Klasse sind. Und dann sind auch nur eine geringe Zahl Rabauken dabei. Aber die Veränderung der Schülerschaft ist ein Problem, mit dem natürlich alle Schularten zu leben haben heute, auch die Gymnasien natürlich zu leben haben, die Realschulen zu leben haben.

Und wir sind gerade vor diesem Hintergrund der Überzeugung, dass eine Lernumgebung, in der wir eine größere Vielfalt haben, wo wir nicht schon durch die Aufteilung auf die Schulform die Kinder sortiert haben, auch häufig nach ihrem sozialen Hintergrund sortiert haben, dass gerade eine größere Vielfalt zu einem besseren Sozialverhalten aber auch natürlich dann zu einer anregenderen Lernumgebung führen werden.

Hettinger: Herr Meidinger, Sie sind nicht nur Vorsitzender des Philologenverbandes, Sie sind auch Lehrer, unterrichten im bayerischen Falkenberg. Was ist Ihre Herangehensweise, Ihr Gefühl bei der Vorstellung, in einer Gemeinschaftsschule Unterricht praktisch halten zu müssen.

Meidinger: Gut, Gesamtschule ist nicht gleich Gesamtschule. Es gibt ja sehr viel unterschiedliche Formen in unterschiedlichen Ländern. Ich glaube, wenn man aus Pisa eine Lehre ziehen kann, dann ist es, dass wir mehr individuelle Förderung brauchen. Und diese individuelle Förderung brauchen wir zunächst mal an den Schulen, die da sind. Das sind in erster Linie Schulen des gegliederten Schulwesens. Und wenn ich mir jetzt ansehe das Land Berlin, wo jetzt 22 Millionen Euro locker gemacht werden für Modellversuche von Gemeinschaftsschulen, die dem gegliederten Schulwesen entzogen werden, dann ist das keine optimistische Perspektive.

Ich fürchte halt, es wird genau so laufen wie bei der Gesamtschule: Viel Geld wird gesteckt in die Entwicklung der Schulform. Dann, wenn die Schulform in einem Land etabliert ist, wie etwa damals in Hessen oder in Nordrhein-Westfalen, dann werden die Mittel wieder entzogen. Die Lehre, die wir aus dieser ziehen müssen, ist, mehr Geld in den Unterricht zu stecken, mehr Geld in die Verbesserung der Unterrichtsqualität. Das sage übrigens nicht nur ich, das sagen auch die Pisa-Forscher wie Herr Baumert, wie Herr Prenzel, wie Herr Köller, und ich glaube denen sollte man vertrauen.

Hettinger: Herr Mayer-Hesemann, stimmen Sie dem zu?

Mayer-Hesemann: Ja. Also wir haben ja nun gerade – KMK, die Kultusminister und die Lehrerverbände – eine gemeinsame Erklärung „Fördern und Fordern“ unterzeichnet. Insofern stimme ich Herrn Meidinger an dem Punkt, dass wir mehr individuelle Förderung brauchen, auf jeden Fall zu. Richtig ist auch, dass wir Unterricht entwickeln müssen. Denn das ist das Entscheidende. Nur, man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass natürlich Unterricht nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem institutionellen Rahmen.

Und wir erleben das an vielen Stellen, dass das gegliederte Schulsystem Impulse setzt oder Signale setzt, die eben doch zu einer bestimmten Art von Unterricht führen und ein Optimum der individuellen Förderung verhindern. Ich denke nur an das Zusammenballen von Kindern mit Problemen, Lernproblemen, sozialen Problemen zum Beispiel in der Hauptschule. Das kann keine Lernumgebung geben, die anregend ist. Baumert hat es gerade herausgearbeitet, dass sich dort differentielle Lernmilieus ausprägen, die eher Lernen und Erziehen behindern statt unterstützen. Und ähnlich verhält es sich auch in anderen Schularten. Und von daher bin ich sehr der Überzeugung, dass längeres gemeinsames Lernen, späteres Trennen der Kinder und gute individuelle Förderung zusammen uns auf einen erfolgreicheren Weg bringen, was wir ja in vielen Ländern, die so ein System praktizieren, erleben.

Hettinger: Nun sagen Kritiker des Systems, in der Einheitsschule werden nicht die Schwachen stärker, sondern die Starken schwächer. Was sagen Sie zu diesem Themenkomplex, Herr Mayer-Hesemann.

Mayer-Hesemann: Das ist in keiner Weise belegt. Das hängt sehr stark natürlich von der Art und Weise ab, wie ich dann Unterricht organisiere, wie ich Unterricht auch gestalte. Da muss man natürlich von heutigen Routinen Abschied nehmen und zu Veränderungen kommen. Deshalb ist es auch so wichtig, solche Veränderungen schrittweise vorzunehmen, behutsam vorzunehmen, die Lehrkräfte vorzubilden, sie nicht zu überfordern, die Schulen zu unterstützen. Und ich meine, das werden auch alle Länder, die diesen Weg beschreiten, ganz verantwortlich tun.

Hettinger: Aber es sind doch Veränderungen, die ziemlich tief gehen. Also die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen, das ist schon ein Eingriff in die Schulform. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, es gibt dann auch irgendwann keine Gymnasien alten Zuschnitts mehr. Ist so was Radikales überhaupt durchsetzbar, Herr Meidinger?

Meidinger: Ich vertraue darauf, dass im Endeffekt die Wähler, die Eltern, die Betroffenen, hier ein großes Wort mitzureden haben. Und da bin ich ganz sicher, dass die Zufriedenheit mit dem gegliederten Schulwesen da ist. Übrigens auch der Vorwurf, soziale Milieus würden sich vor allem im gegliederten Schulwesen, etwa in den Hauptschulen, besonders zusammenballen, trifft ja so nicht zu.

Wir haben in Frankreich oder auch in den Vereinigten Staaten derzeit große Auseinandersetzungen bis hin zu Straßenkämpfen und Randalen, die gerade in diesen Gemeinschaftsschulen stattfinden. Es ist nämlich vor allem ein regionales Problem und ein Problem des sozialen Milieus in Großstädten, dass durch eine Auflösung der Hauptschule nicht gelöst wird.

Hettinger: Das heißt, man würde das Problem eher verteilen, als es angehen?

Meidinger: Man würde es verteilen, genau so ist es, ja.

Hettinger: Nun gibt es viele Bildungspolitiker, die von einem Zwei-Säulen-Modell sprechen: Das Gymnasium bleibt, alle anderen Schulen, wie Haupt-, Real-,Gesamtschule, die gehen dann in der Gemeinschaftsschule auf. Dann hätte man aber doch letztlich wieder eine schulische Zwei-Klassen-Gesellschaft, Herr Mayer-Hesemann.

Mayer-Hesemann: Man muss natürlich sehen, wenn man in Deutschland jetzt das Bildungssystem in einzelnen Ländern weiterentwickelt, dann passiert das ja sehr stark auch nicht nur vor dem Hintergrund pädagogischer Herausforderungen nach Pisa, sondern auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. Und wir haben inzwischen in Deutschland einen Trend hin zur Zweigliedrigkeit. Auch hier in Schleswig-Holstein werden unsere Hauptschulen und Realschulen zu Regionalschulen flächendeckend zusammenführen, was inzwischen in acht von 16 Ländern passiert ist. Und diesen Trend gibt es natürlich. Ob das eine Zwei-Klassen-Gesellschaft wird, das muss man sehen.

Ich würde überhaupt davon abraten, nicht immer wie das Kaninchen auf die Schlange auf das Gymnasium nur zu starren, sondern ich denke mal, alle Schülerinnen und Schüler sollen eine möglichst gute Qualifizierung erhalten. Es geht hier nicht um das Ende des Gymnasium, sondern es geht darum, wie organisiere ich sinnvoll und verantwortungsvoll Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler an unseren Schulen. Und ich glaube, dass ein zweigliedriges System – wir werden in Schleswig-Holstein daneben dann die Gemeinschaftsschule anbieten –, dass das eine richtige Entwicklung ist, alles Weitere wird sich dann ergeben.

Hettinger: Vielen Dank, Wolfgang Meyer-Hesemann, Staatssekretär im Schleswig-Holsteinischen Bildungsministerium und Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes in einem Streitgespräch: Sind die Gemeinschaftsschulen die Zukunft der Bildungspolitik?