Viel Stoff, wenig Papier

Ein Mann liebt eine junge, sich ihm immer wieder entziehende Frau – der schmale Roman des Ungarn Szilárd Rubin (1927-2010) scheint zutreffend "Eine beinahe alltägliche Geschichte" zu heißen. Aber er ist ungewöhnlich erzählt.
Der 44-jährige Levente Rostás hält sich nächtelang auf der Straße auf, um seine mit einem Wartburg herumbrausende Liebe abzufangen: "Seit ich Piroska kannte, waren Landstraßen zu meiner zweiten Heimat geworden." Besorgte Freunde raten dem Liebeskranken zur Kur. Levente zieht sich erst nach Karlsbad, dann in das ungarische Bad Harkány zurück. Beide Male kündigt Piroska ihren Besuch an und löst eine Welle von Erinnerungen aus, die der Kurgast aufschreibt.

Rubin, der hierzulande erst 2009 mit dem aus dem Jahr 1963 stammenden Roman "Kurze Geschichte von der ewigen Liebe" begeisterte, ist ein wunderbarer Erzähler. Levente mag am Stock gehen, seine Erinnerungen jedoch durcheilen, ohne sich groß um die Chronologie zu scheren, hurtig die Jahrzehnte. In knappen, pointierten Szenen, deren assoziative Verbindung Rubins Vertrautheit mit Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" und dem Kino zeigt, werden Personen und Ereignisse aufgerufen. Der schmale Roman ist ein Extrakt, er will aufmerksam und langsam gelesen werden.

Das Buch kreist um Verlusterfahrungen. Die von Mann zu Mann gleitende Piroska ist nur Leventes letzter Verlust. Davor hat er zahlreiche Frauen und seine Familie verloren: Großeltern und Eltern fielen den alliierten Bomben zum Opfer, Onkel und Tante, zum christlichen Glauben konvertierte Juden, wurden bei der Vertreibung der Ungarn durch die Slowaken aus dem sogenannten Oberungarn ermordet. Auch Piroskas Familie wurde vertrieben, aus Siebenbürgen. Die Vertreibungen rücken im letzten Drittel des Buches unvermittelt in den Vordergrund.

Drei kurze Kapitel sind dort mit römischen Ziffern überschrieben: Im ersten erinnert sich Levente an ein Kindheitsglück, das zweite erzählt von einem Waggon, der 1946 sorgsam für die Deportation von oberungarischen Säuglingen ausgestattet wurde, jedoch bei einem Halt und minus zwanzig Grad von der Heizung abgeschnitten wird. Das dritte Kapitel handelt von der Entstehung eines Gedichts über die Deportierten.

Damit drängt ein nationales Trauma ins Zentrum des Romans: die Gebietsverluste Ungarns durch den Vertrag von Trianon 1920: Oberungarn fiel an die Tschechoslowakei und Siebenbürgen an Rumänien. 1940/41 erlangte Ungarn diese Gebiete mit Hilfe der Nationalsozialisten zurück,1946 verlor es sie erneut.

Rubin spiegelt also im individuellen Verlust von Piroksa den nationalen. Revisionistisch ist sein 1985 in Ungarn erschienenes Buch nicht (allerdings wünscht sich Piroska einmal eine Gedenktafel für den Reichsverweser Horthy, der mit den Nationalsozialisten verbündet war und 1944 von ihnen gestürzt wurde). Vielmehr versieht der Autor in bewährter nationaler Tradition seinen Erzähler mit Melancholie und Sarkasmus und verschafft ihm Trost bei Kierkegaard, Proust, Freud, Kafka, Brontë. Die vor den Zumutungen der Geschichte und der Frauen schützende Hülle der Kultur versagt jedoch einmal: als in den drei eingeschobenen Kurzkapiteln direkt von Vertreibungen die Rede ist.

Die "beinahe alltägliche Geschichte" ist also alles andere als alltäglich. Es ist die Geschichte einer Liebe, die Biographie eines Mannes und die Historie Ungarns im 20. Jahrhundert. Das ist nicht wenig Stoff für 150 Seiten und lässt den ansonsten gelungenen Roman manchmal wie eine Stopfgans wirken.

Besprochen von Jörg Plath

Szilárd Rubin: Eine beinahe alltägliche Geschichte
Roman
Aus dem Ungarischen von Andrea Ikker
Rowohlt Berlin, Berlin 2010
157 Seiten, 16,95 Euro