Viel erreicht, wenig gewonnen?

Von Michael Frantzen · 18.06.2013
Schlusslicht - dieses Etikett erhielt Gelsenkirchen in einer Studie über die Nachhaltigkeit deutscher Großstädte. Überall schnitt die auf 260.000 Einwohner geschrumpfte Ruhrgebietsmetropole am schlechtesten ab. Aber wenn es denn wirklich so schlimm ist, warum ziehen nicht gleich alle weg?
Klaus Herzmanatus: "Komm! Wir zeigen euch mal Gelsenkirchen. Wir zeigen euch mal Gelsenkirchen live."

Werner Rebarski: "Wir zeigen einmal die Sonnenseiten dieser Stadt."

Der Stadt mit dem schlechten Ruf. Tief im Westen.

Klaus Herzmanatus: "Da kommt nämlich immer: Wir wachen morgens auf, dreckige Fingernägel und die Tauben fliegen falsch rum."

Joe Steinbeck: "Kohle! Dreck! Umweltverschmutzung! Arbeitslosigkeit!"

Fällt vielen als Erstes ein, wenn sie an Gelsenkirchen denken. Das ist schade. Schließlich ist hier vieles anders, als man denkt.

Klaus Herzmanatus: "Herzlich willkommen an Schacht zwei, Zeche Hugo! Glückauf! Schön, dass alle da sind. Und so viele gekommen sind."

Zum "Großen Spiel", dem 1942 gedrehten Streifen über Schalke 04.

Herzmanatus: "Viel Spaß beim Film."

Schalke 04 und die Bergarbeitertradition – das gehört genauso zusammen wie der 1904 gegründete Fußballklub und Gelsenkirchen. Klaus Herzmanatus, dem Filmvorführer, muss man das nicht zweimal sagen. Der ehemalige Kumpel und Betriebsratsvorsitzende hat aus Teilen der stillgelegten Zeche ein Bergbaumuseum gemacht:

"Wir befinden uns jetzt hier in der Fördermaschinen-Halle. Da steht eine riesengroße Maschine drin, war mal die leistungsstärkste Fördermaschine Europas. Hat mal zu Glanzzeiten 17.000-18.000 Tagestonnen gefördert – reine Steinkohle. Diese Halle hat eine enorme Größe. Wo man natürlich tolle Veranstaltungen machen kann."

Gibt einiges zu sehen hier. Nicht nur Kino. Schaufensterpuppen in "Pütt-Hemden" beispielsweise, der blau-weiß gestreiften Bergarbeiterkluft. Oder auch ortstypische Einrichtungsgegenstände.

Klaus Herzmanatus: "Hier unser Gelsenkirchener Barock-Schrank. Gehört eigentlich dazu wie die Taube auf dem Dach. Also Gelsenkirchener Barock ist ne Stilrichtung, die so in den 60er-, 70er-Jahren entstanden ist. Eigentlich so die Moderne für den kleinen Mann. Sahen optisch toll aus. Eben: Schlichte Fichte, wie man so sagt."

"Wir kämpfen weiter"
Bergarbeiter in vierter Generation ist Herzmanatus. Ex-Bergarbeiter. Schon Urgroßvater Wilhelm, ein zugewanderter Ostpreuße, schuftete unter Tage. Sein Urenkel tat es ihm nach, bis Anfang der Jahrtausendwende die letzte Schicht eingefahren wurde:

""Gelsenkirchen ist eigentlich eine typische Ruhrgebietsstadt. Vom Schlag der Menschen. Also richtig Ruhrpott pur. Was ich gut finde: dass in Gelsenkirchen die Menschen trotz der schwierigen Situation auch mit Arbeitsplatzverlust … Wenn man überlegt, in den 90er-Jahren sind 28.000 Arbeitsplätze allein im Bergbau verloren gegangen. Wir haben trotzdem begriffen, nicht den Kopf innen Sand zu stecken; trotz der schwierigen Situation. Und haben gesagt: Wir kämpfen weiter."

Allen voran Klaus Herzmanatus. Dem Mann mit dem Schnäuzer und dem festen Händedruck ist es zu verdanken, dass die Zeche samt ihres 72 Meter hohen Förderturms heute als Veranstaltungsort und Museum genutzt wird. War anfangs gar nicht klar, ob das geht. Doch Herzmanatus ließ nicht locker. Bis er das OK bekam. In Gelsenkirchen kennen sie das schon. Auch die Sozialdemokraten, quasi die CSU des Ruhrgebiets. Sein Herz schlage immer noch sozialdemokratisch, meint der ehemalige Bergarbeiter. Nur habe er sich irgendwann nicht mehr mit der "real-existierenden" Sozialdemokratie identifizieren können.

Jetzt sitzt der Abtrünnige für die Gelsenkirchener CDU im Rat der Stadt – und versucht das Beste rauszuholen für "sein" Gelsenkirchen. Nicht immer einfach. Die Sache mit der mangelnden Nachhaltigkeit etwa, die Studie der Wirtschaftswoche vom letzten Jahr: Gift fürs Image.

Klaus Herzmanatus: "Ich find immer schade, dass man sich gewisse Dinge raus pickt. Weil man eben sacht: OK, das ist jetzt eben der hässliche Vogel, das hässliche Entlein in Deutschland. Also pick ich mir mal Gelsenkirchen raus. Wir haben ein Manko: Wir haben leider es nicht geschafft, die hohe Arbeitslosigkeit abzufangen. Wir haben es leider nicht geschafft aufzuhalten, dass immer mehr Leute wegziehen. Wir hatten mal 370.000 Einwohner, wir haben 260.000 Einwohner."

Ein Ende des Bevölkerungsschwunds ist nicht in Sicht. Klaus Herzmanatus aber, der Schwarze mit dem roten Herz, will bleiben:

"Ich könnte mir nicht vorstellen, hier weg zu ziehen. Ich fühl mich sauwohl."

Hauptsächlich wegen der Menschen; dem Gelsenkirchener an und für sich:

"Herz auf der Zunge. Frei raus. Auch mal einen koddrigen Spruch. Das heißt, wenn irgendwo einer alleine sitzt, wird gesagt: Mensch, komm rüber, guck nicht so blöd, setz dich zu uns. Bist dabei und mach mit!"

Gutes Stichwort.

Bergleute der letzten Förderschicht der Zeche Ewald/Hugo in Gelsenkirchen am 28.4.2000
Bergleute der letzten Förderschicht der Zeche Ewald/Hugo im Jahr 2000© picture alliance / dpa / Bernd Thissen
"Wir sind Ureinwohner""
Rosemarie Klimeck: "Will der uns jetzt auch noch interviewen?"

Das wäre jetzt so meine Überlegung gewesen.

Doris Scheebaum: ""Scheebaum. S, C, H. zwei E. Baum. Scheebaum. Doris."

Rosemarie Klimeck: "Und ich heiß Rosemarie Klimeck."

Überzeugte Gelsenkirchenerinnen – die beiden Kinogängerinnen.

Doris Scheebaum: "Wir sind Ureinwohner."

Rosemarie Klimeck: "Ja! Ureinwohner."

Als solche engagieren sich Frau Scheebaum mit Doppel-E und Frau Klimeck mit einfachem E im Heimatverein; dem von Buer. Das ist nicht ganz unwichtig. Schließlich wurde ihr Stadtteil erst Mitte der 20er-Jahre eingemeindet. Buer, weiß Rosemarie Klimeck zu berichten, sei von Hause aus immer etwas wohlhabender gewesen, bürgerlicher auch, als Gelsenkirchen-Stadt. Lässt sich gut leben hier. Trotz aller Klischees.

Rosemarie Klimeck: "Gelsenkirchen wird manchmal immer so runter gemacht."

Selbst von denen, die es eigentlich besser wissen müssten. Ärgert sich die pensionierte Verkäuferin mit den wachen Augen:

"Letztens war so ein Fernsehfilm: Die Schauspielerin sachte, wo sie herkommt. Da sacht se: aus Gelsenkirchen. Ja! Was kann da schon herkommen?! Da hab ich mich geärgert. Nä?! Das ist immer so: Gelsenkirchener Barock. Ja?! Diesen Ausdruck kennt man ja. Da steht ja auch so ein Schrank mit Gelsenkirchener Barock."

Doris Scheebaum: "Na gut. Dat war innen 50er-Jahren. Da hatten sie ja auch keinen Besseren."

Rosemarie Klimeck: "Ja, ja. Eben. Das war überall. Aber: Es ist wirklich so, dass es manchmal so schlecht gezeigt wird."

Doris Scheebaum: "Ja, aber: Wir sind da selbstbewusst. Wir sind stolz, dass wir hier in Buer wohnen."

Ist auch familiär bedingt – das mit dem Stolz. Schon Doris Scheebaums Vater hat auf der Zeche Hugo gearbeitet, sie selbst als junge Frau im werkseigenen Kindergarten. Mögen zwei ihrer drei Kinder inzwischen auch an der Küste, in Emden, wohnen – samt der Enkelkinder. Die Oma bleibt da, wo sie ist, aus alter Verbundenheit:

"Wir wohnen schon über 70 Jahre hier in Buer. Wir sind damit verbunden. Wir möchten auch gar nicht woanders wohnen. Gucken se mal: Wir haben das Schloss Berge bei uns. Wir wohnen auf der Westerholter Straße. Fünf Minuten weiter haben wir den Wald, dann können se drei Stunden durch den Wald laufen."

Ein Schwarzwälder für die Nachhaltigkeit
Manfred Beck: "Zunächst mal ist Gelsenkirchen eine grüne Stadt. Ich stamme aus Süddeutschland. Wenn Gäste aus Süddeutschland hier herkommen, die zum ersten Mal im Ruhrgebiet sind, sagen die: Das haben wir uns anders vorgestellt."

Manfred Beck ging es ähnlich, als er 2000 erstmals nach Gelsenkirchen kam. Wenn man so will, ist der gebürtige Schwarzwälder der Mann für die Nachhaltigkeit hier. Auch wenn sein offizieller Titel das erst einmal nicht vermuten lässt: Beck ist Beigeordneter für Kultur, Bildung, Jugend, Sport und Integration. Bildung liegt ihm besonders am Herzen. Nachhaltige Bildung. Trotz klammer Kassen haben der Beigeordnete und sein Team einiges auf die Beine gestellt. Davon zeugt nicht zuletzt der Deutsche Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie "Bildung für nachhaltige Entwicklung" vom Dezember letzten Jahres

Beck hebt in seinem Büro voller moderner Kunst die Hände, soviel zum Thema mangelnde Nachhaltigkeit:

"Der Bereich Bildung ist einer, wo Gelsenkirchen landesweit, zum Teil bundesweit sehr hoch angesehen ist. Weil wir als erste Großstadt begonnen haben, systematisch Bildungsbiografien von Geburt an zu gestalten. Wir besuchen junge Mütter in der Klinik, mit kleinen Geschenken, die auch schon etwas mit Erziehung und Bildung zu tun haben. Denn es geht zentral darum, diesen fatalen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu überwinden."

Werner Rebarski: "Wir haben das Ziel: Die lernende Stadt. Dass Lernen, Bildung als was Positives erlebt wird. Und wir wissen eigentlich auch, dass Bildung die wichtigste Ressource dieser Stadt ist."

Sekundiert Werner Rebarksi, der Leiter des Agenda-Büros der Stadt. Seine Agenda: Die Gelsenkirchener dazu bringen, sich zu engagieren:

""Das halten wir auch für wichtig. Da setzen wir auch an. Wir machen Projekte mit Menschen in den Stadtteilen direkt; vor der Haustür. Es geht um Klimaprojekte. Mobilitätsprojekte. Bildungsprojekte. Und dass die Menschen, die sich hier auf ihre Stadtteile beziehen, bereit sind, sich für ihre Stadtteile, für Verbesserung, Verschönerung und Nachhaltigkeit der Stadtteile einzusetzen: Das ist schon ein besonderes Phänomen."

In der Ruhrgebietsstadt, die besser ist als ihr Ruf, der schlechte. Werner Rebarski lächelt. Langsam tut sich was. In Bildungsfragen ist jetzt sogar manchmal schon vom "Gelsenkirchener Modell" die Rede. Andere Städte wollen wissen, wie es die Gelsenkirchener hinbekommen, mit wenig Mitteln in der Bildung möglichst viel zu erreichen.

Letztens erst war Rebarksi in Solingen, demnächst ist er in Wolfsburg, um zu referieren - über die Stadt, der er sich verbunden fühlt:

"Ich bin in einer Zechen-Kolonie groß geworden. Mein Vater war Bergmann auf der Zeche Dahlbusch. Ich hab selbst, bevor ich studierte, kurze Zeit unter Tage gearbeitet. Bin dann zum Studium in eine andere Stadt gegangen. Und für mich war ganz selbstverständlich, dass ich wieder zurück nach Gelsenkirchen ziehe. Möglicherweise hätte ich in anderen Städten zu dem Zeitpunkt absehbar eine bessere Perspektive sogar gesehen. Aber: Ich bin nach Gelsenkirchen zurückgegangen, ich hab hier Freundinnen und Freunde, ich hab hier Verwandtschaft. Ich bin hier zu Hause. Von daher war es für mich überhaupt keine Frage: Zurück nach Gelsenkirchen."


Ihm hier ging es genauso.

Stefan Goch: "Mein Name ist Stefan Goch. Stefan mit F. Ich bin Leiter des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen."

Goch ist im Stadtteil Horst aufgewachsen. Angestelltenmilieu. So was gibt es auch, in der Malocherstadt, meint der Endvierziger leicht triumphierend. Der Mann, der zum Lachen nicht in den Keller geht, hat als Erster in seiner Familie Abitur gemacht – und danach in Bielefeld studiert. Lange her. Jetzt beschäftigt er sich von Berufswegen mit der Frage, die ihn schon sein halbes Leben umtreibt:

"Was ist der Gelsenkirchener? Was ist seine Identität? Und da spielt Geschichte schon eine große Rolle. Wenn sie sich das angucken: Es gibt einen Boom für so was wie moderne Heimatliteratur, Beschäftigung mit Stadtgeschichte, der näheren Umgebung. Teilweise auch mit den untergegangenen Zechen. Das sind Verlusterfahrungen, aber auch in gewisser Weise sich in seiner Heimat oder seine Geschichte zu versichern."

Eines der größten Steinkohle-Kraftwerke Europas, das E.ON Kraftwerk Scholven, steht in Gelsenkirchen unter Dampf.
Eines der größten Steinkohle-Kraftwerke Europas steht in Gelsenkirchen.© AP
Schwieriger Strukturwandel
In der Hochphase, Ende der 50er-Jahre, arbeiteten in den Gelsenkirchener Zechen 50.000 Bergleute. Das war einmal. Kohle wird in Gelsenkirchen keine mehr gefördert. Stattdessen versuchen sie sich in der "Stadt der tausend Feuer" jetzt am Strukturwandel. Ein schwieriges Unterfangen.

Stefan Goch muss dafür nur aus dem Fenster seines Büros im zweiten Stock unweit des Gelsenkirchener Bahnhofs schauen:

"Wir sind in diesem Gebäude in einem Wissenschaftspark, der auf dem Gelände eines ehemaligen Gussstahlwerkes steht, das mal 2000 Beschäftigte hatte. Das heißt, die neuen Arbeitsplätze sind viel, viel weniger. Hier arbeiten vielleicht 400 Leute."

Dementsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit: Sie liegt bei über 14 Prozent und damit weit über dem Landesdurchschnitt. Gelsenkirchen – die Looser-Stadt. Dieses Etikett hält sich hartnäckig wie Kaugummi an der Schuhsohle. Ist ja auch einiges zusammengekommen in der letzten Zeit.

Zur rekordverdächtigen Dauerarbeitslosigkeit gesellten sich Negativschlagzeilen wie die, dass eines der fünf umweltschädlichsten Kohlekraftwerke Deutschlands hier die Luft verpestet. Von der Nachhaltigkeitsstudie mit Gelsenkirchen als Schlusslicht ganz zu schweigen.

Die brachte auch ans Tageslicht, dass der Gelsenkirchener mit durchschnittlich 77,5 Jahren so früh stirbt wie sonst niemand in den untersuchten fünfzig Großkommunen. Kam nicht so gut an hier.

Stefan Goch: "Der gemeine Gelsenkirchener kann es überhaupt nicht haben, wenn die Region schlecht geredet wird. Wir hatten mal einen Oberbürgermeister in dieser Stadt, Herrn Wittke. Der hat diesen schönen Spruch geprägt, als es um die Förderung von Städten nach Himmelsrichtungen ging: Osten haben wir selber."

Manfred Beck: "Er ist mal mit Journalisten durch die Stadt gegangen und hat ihnen die Schmuddelecken dieser Stadt gezeigt."

Ergänzt Manfred Beck, Beigeordneter und Gelsenkirchens Bildungsbürger Nummer Eins:

"Das endete so, dass mir mein Sohn, der in den USA lebt, aus der 'New York Times' einen ganzseitigen Artikel geschickt hat, der lautete: 'Der Niedergang des Ruhrgebiets am Beispiel Gelsenkirchen'. Und wenn se das in der 'New York Times' haben, dann können sie sich vorstellen, mit welcher Begeisterung Investoren nach Gelsenkirchen kommen."

Investoren reagieren auf solche Schauergeschichten zuweilen allergisch. Das weiß auch Rolf Heinze. Seit über 20Jahren lehrt der Soziologe an der Ruhr-Universität in Bochum, direkt um die Ecke von Gelsenkirchen. Zusammen mit Kollegen seiner Fakultät hat der gebürtige Ostwestfale das Standardwerk über den Strukturwandel im Ruhrgebiet verfasst. Titel: "Viel erreicht, wenig gewonnen."

Viel erreicht, weil heute mehr als 200.000 Menschen im Ruhrgebiet studieren: in Bochum, Dortmund, einige auch in Gelsenkirchen. Wenig gewonnen, weil viele Studenten, wenn sie fertig sind, ihre Zelte wieder abbrechen.

"Wir verlieren gute Leute"
Rolf Heinze: "Dass noch immer Firmen aus Süddeutschland hochkommen, Leute abwerben. Und das ist so. Und das ist schade. Das ist Braindrain. Wir verlieren gute Leute. Die Leute, sag ich mal, die auch neue Ideen einbringen. Das ist ein strukturelles Problem. Und mir tut das eigentlich immer sehr weh, dass es uns nicht gelungen ist, genügend interessante Arbeitsplätze aufzubauen. Ich persönlich würde sagen: Versucht es hier im Ruhrgebiet! Es gibt hier viele Ansätze."

Nicht nur in der Wirtschaft.

Ingo Tschira: "Vielleicht können wir mal eben ... "

Joe Steinbeck: "... die Saalbeleuchtung anmachen. Und dann kommt dann auch so ein bisschen dabei raus, was Atmosphäre ist."

In der Schauburg – dem bekanntesten Kino in Gelsenkirchen-Buer.

Ingo Tschira: "Die Schauburg ist auf jeden Fall ein historischer Ort in Buer. Ist eines der ältesten Kinos, die es überhaupt noch gibt in Deutschland. Im Originalaussehen, mit Wandtäfelungen aus schönem Holz und so. In den 20er-Jahren gebaut. Und ist kein Zufall, dass wir uns hier treffen."

Einmal im Monat lädt der Geheimnisvolle Filmclub Omega in die Schauburg ein; immer am dritten Samstag im Monat. Immer zwei Filme im Sammelpack. Seit 14 Jahren schon. Bei der letzten Aufführung, erzählt Ingo Tschira, einer der Initiatoren der Filmreihe, seien rund hundert Zuschauer gekommen. Sie kommen, um sich alte Art House Filme oder Trash-Movies anschauen, die auf Namen wie "Der Melonen Walzer" und "Teuflische Brüste" hören.

Wobei, Trash-Movies, das hört Ingos Mitstreiter Joe Steinbeck nicht so gerne - weil, das klingt so despektierlich:

"Die Leute kommen, weil auch die Atmosphäre sehr, sehr einzigartig ist. Ich weiß nicht, wie's dir gegangen ist, als du hier reingekommen bist: Man kommt so durch dieses Foyer, das ist schon eine ganz andere Atmosphäre. Ist auch etwas anderes, als in so einem x-beliebigen 1990 gebauten Betonding."

Längst schon pilgern die Leinwandliebhaber nicht nur aus Gelsenkirchen hierher, sondern auch von weiter weg: aus Essen, Köln, anderen Bundesländern. Kinometropole Gelsenkirchen.

Für Ingo, der, wenn er nicht gerade seiner Film-Leidenschaft nachgeht, im wirklichen Leben als Rohrschlosser bei den Stadtwerken arbeitet – für Ingo ist die Sache klar:

"Ich bin gebürtiger Gelsenkirchener. Aus Buer. Ich hab mich immer wohlgefühlt und das ist auch weiterhin so. Trotz aller Probleme. Ich mein, jede Stadt hat auch so Ecken, die nicht so dolle sind. Hab – und jetzt genau hinhören – ich hab's sogar geschafft, meine Freundin aus Düsseldorf hierhin zu locken."

Joe Steinbeck: "Die Frage ist ja auch: Was braucht man? Muss man Schickimicki haben? Düsseldorf?! Das verbindet man ja auch mit diversen Klischees: Dass man sagt: Da ist Geld, da sind oberflächliche Menschen. Die Frage ist ja immer: Wo fühlt man sich wohl? Das ist ja das, worauf es letzten Endes ankommt. Natürlich gibt's hier auch mal einen ruppigen Ton. Dennoch kann man sich hier wohlfühlen."

Auf Schalke
Weiß-blau regiert "auf Schalke".© picture alliance / dpa - Roland Weihrauch
Gartenzwerge im Schalke-Look
Hart, aber herzlich: In Gelsenkirchen findet man das häufiger. Auch "auf Schalke".

Rolf Rojek: "Wenn man hier einem was sacht: Der ist nicht gleich beleidigt. Der kann auch einen Klartext verstehen. Hier wird gesagt: Hömma, watt machst du da fürn Müll!"

Klartext – das sind sie bei Schalke 04 bei Rolf Rojek gewohnt. Der Endfünfziger hat bis vor Kurzem den Schalker Fanklubverband geleitet. Schalke ist sein Ein und Alles. Das ist nicht ohne Folgen geblieben. Das Grab auf dem Schalke Fanfeld - Motto "Blau und weiß – ein Leben lang" - ist bereits reserviert, für alle Fälle. In seinem Garten haben sich über 60 Gartenzwerge im blau-weißen Schalke-Look eingefunden. Der Wecker, auch ganz auf Schalke eingestellt.

Rolf Rojek: "Irgendwann hab ich mal auf die Uhr geguckt und da hab ich gesehen: fünf null vier. Datt sah ja aus: Diese Digitaluhren – das sah aus wie: S 04 Und ich so: So bleibt die Uhr jetzt ewig stehen. Und die Weckzeit ist immer noch auf fünf null vier."

Bei Rojeks zu Hause.

Rolf Rojek: "Unser Nachbar war der Olaf Thon. Ja! Der ging mit meinem Bruder in eine Klasse. Und der Günter Thon, der Vater, der hat mich trainiert. Also war da schon eine Verbindung zu Schalke. Und eigentlich: Ich bin aus der Schule abgehauen, wenn Schalke gespielt hat. Ich habe auf der Zeche blau gemacht, wenn Schalke gespielt hat. Ich war bei der Bundeswehr, bin in der Uniform geflüchtet, aus Koblenz, wenn Schalke gespielt hat. Also ich hab für Schalke immer alles gemacht."

Ist heute auch noch so. Auch wenn der einstige Malocher-Klub längst zu einer von der russischen Gazprom und anderen finanzkräftigen Investoren aufgepäppelten Elitemannschaft mutiert ist.

Rolf Rojek: "Schalke 04 hat sich natürlich gewandelt, mit den VIP-Räumen und so, nä? Ja, da ist für mich egal. Bei uns inne Fankneipe hatten wir schon Verkehrsminister aus Thüringen gehabt. Ich duze jeden. Ich würde auch eine Frau Merkel hier duzen, wenn ett so is, näh?"

Noch ist "Frau Merkel" nicht bei Schalkes Oberfanbeauftragten vorstellig geworden. Der eine oder andere Adlige schon.

Rolf Rojek: "Wir hatten hier einmal den König von Benin. Jetzt hab ich ja immer gedacht: Watt will ein König bei Rolf Rojek hier im Fanklubverband? Und da hab ich gesagt: Jetzt kommt bestimmt Hape Kerkeling. Nein! Der König von Benin. Und dann kam er rein, kamen zwei Autos, Limousinen, die Standarte vorne an. Dann kam sein Hut, sein langer Rock. Kam er dann hier rein. Denk ich: Wie redest du den denn jetzt an? Ich sach, ich geh doch jetzt nicht hin, ich duze jeden und jetzt sag ich zu dem Majestät! Und es wird gezeigt und die lachen sich alle kaputt. Da bin ich hingegangen: Na, König? Alles OK? Gefällt's dir hier, hab ich gesacht. Ach, sachta, gut, bei dir?"

Weniger gut ist, dass die "Schalker Meile", die Hauptstraße um die Ecke von der Arena, nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Früher reihte sich hier eine Kneipe an die andere, waren die Geschäfte voll. Heute hat nur noch eine Kneipe durchgehend geöffnet, stehen über 30 Prozent der Wohnungen leer. Aber zumindest sind die leer-stehenden Ladenlokale jetzt mit Schalkefahnen ausstaffiert worden. Besser als nichts, findet Schalkes größter Fan.

Kurz vor halb neun, das "Große Spiel" liegt in den letzten Zügen. Klaus Herzmanatus ist in die untere Etage der Zeche Hugo gegangen, an die Theke. Der selbsternannte "Gelsenkirchener Lokalpatriot" schaut zufrieden nach oben. Ein volles Haus, das ist immer gut. Identifizieren sich halt viele mit ihrem Schalke 04 – und ihrer Stadt. Allen Unkenrufen zum Trotz.

Klaus Herzmanatus: "Ich wünsch mir auch für diese Gebäude hier. Hier haben mal 5000 Menschen gearbeitet, ich hab mir immer gewünscht, hier Arbeitsplätze zu schaffen. Wir haben Flächen da. Wir haben tolle Leute da, die gut arbeiten können und auch gut anpacken können."

In Gelsenkirchen, der Stadt, in der Traditionen groß geschrieben werden. Nachhaltig.

Stefan Goch: "Wenn man's auf den Punkt bringen will: Wir haben es nicht leicht, aber wir bemühen uns."
Mehr zum Thema