Viel besucht und doch unbekannt

Von Tilmann Kleinjung · 06.06.2011
Den Vatikan umgeben bis heute etliche Geheimnisse. Wer wenigstens eine Ahnung vom Innenleben des Zwergstaates erhalten will, muss so manche Hürde überwinden - nicht nur die der Posten der Schweizer Garde.
Es gibt für Gäste aus Deutschland eine einfache Möglichkeit, zumindest eine Ahnung vom vatikanischen Innenleben zu bekommen. Man spaziert vormittags an die Porta del Sant' Ufficio. Das ist, wenn man vor dem Petersdom steht, gleich links hinter den berühmten Kolonnaden – dort wo es zur Glaubenskongregation geht, der ehemaligen Inquisition. Man tritt mutig auf einen der beiden Schweizer Gardisten zu, die dort Wache stehen, und sagt auf Deutsch (das ist wichtig!): Ich möchte gerne zum deutschen Friedhof.

Der Gardist zeigt einem dann mit weiß behandschuhter Hand den Weg zum "Campo Santo Teutonico", an dem deutsche Priester, Prälaten und mehr oder weniger prominente Pilger ihre letzte Ruhe gefunden haben. Kein spektakulärer Ort und auch nicht "deep inside the Vatican" – vielleicht 50 Meter vom Eingang entfernt - aber die neidischen Blicke der anderen Touristen sind es wert, von denen wir uns durch das Privileg eintreten zu dürfen, unterscheiden.

Am Campo Santo treffen wir Monsignore Thomas Frauenlob, er wohnt am Campo Santo, der nicht nur Friedhof ist, sondern auch ein Kolleg für deutsche Priester, die in Rom forschen oder an der Kurie arbeiten. So wie Thomas Frauenlob, der vom Erzbistum München an die vatikanische Bildungskongregation "ausgeliehen" wurde. Frauenlob ist unser "Cicerone", der Mann der uns zeigen soll, ob es im Vatikan tatsächlich so langweilig zugeht, wie man uns weismachen will.

Nein, "langweilig" wäre der falsche Ausdruck. Spektakulär trifft es schon eher!

"Also, wir sitzen hier auf der Terrasse des deutschen Kollegs, des Campo Santo Teutonico mit einem wunderbaren Blick auf die Südfassade der Peterskirche. Und auch die Kuppel, die sich mächtig darüber erhebt. Also von der Stelle sieht man die Schönheit und Eleganz der Kuppel ganz gut."

Im Sommer ist es hier tagsüber unerträglich heiß auf der Panorama-Terrasse des deutschen Kollegs im Schatten der "cupola". Aber im milden römischen Frühling oder an lauen Spätsommerabenden, wenn die Touristen weg sind und die Kuppel mit Scheinwerfern erst richtig in Szene gesetzt wird – dann bekommt man eine Ahnung davon, dass das Leben im Dienste des Papstes nicht nur entbehrungsreich und hart ist. Das Paradox dieses wunderschönen Ortes: obwohl mitten drin, gehört er nicht zum Vatikan, sondern zum italienischen Staatsgebiet. Thomas Frauenlob ist also gar kein vatikanischer Staatsbürger, er hat nicht diesen Vatikan-Pass, den wir so gerne einmal gesehen hätten. In den Lateranverträgen von 1929, mit denen der Vatikanstaat gegründet wurde, haben die Italiener (aus welchen Gründen auch immer) dem Papst diese paar Quadratmeter Land nicht gegönnt.

"Vor unserem Friedhof gibt es eine weiße Linie, die zeigt genau die Staatsgrenze an. Gleich nebenan befindet sich die Audienzhalle, die in den 60er-Jahren gebaut wurde. Der Zuschauerraum ist auch italienisches Staatsgebiet. Das heißt, wenn der Papst eine Audienz gibt, sitzt er auf der Bühne auf vatikanischem Staatsgebiet, während die Zuschauer auf italienischem Staatsgebiet verbleiben."

Und trotzdem muss auch der Besucher einer Papstaudienz an der Wache der Schweizer Garde vorbei. Und er benötigt eine Eintrittskarte. Die gibt es selbstverständlich kostenfrei, zum Beispiel beim deutschen Pilgerbüro in Rom.

Die Generalaudienz ist eines jener kuriosen Rituale, die diesen Staat zu einem Unikum machen. Jeden Mittwoch trifft Benedikt XVI. die Pilger. Eine Begegnung auf Distanz, wenn man nicht das Glück hat, in einer der vorderen Reihen zu sitzen. Zuerst gibt es eine Katechese, eine Art Religionsunterricht für Fortgeschrittene. Der Papst spricht gerne über besondere Kirchenväter wie Hilarius von Poitiers und auch über spezielle Heilige.

Danach begrüßt Benedikt die Pilger in verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Polnisch, Portugiesisch und natürlich Italienisch. Und wenn eine große Gruppe aus den Niederlanden oder der Slowakei
anwesend ist, dann gibt es auch einen freundlichen Gruß in deren Muttersprache.

Die Generalaudienz ist eine Mischung aus Kultus und Kirmes. Der Papst hätte es sicher gern ein wenig andächtiger, der Großteil des Publikums jedoch will einfach nur jubeln.

Das Ergebnis ist ein frommes Spektakel. Zum Schluss beten alle gemeinsam das Vater Unser auf Latein, der Papst spendet seinen apostolischen Segen und verschwindet durch eine Seitentür. Das war's. Näher kommt man als Pilger oder Tourist dem Kirchenoberhaupt nicht.

"Gelegentlich werde ich gefragt von Leuten, die keine Ahnung von der Struktur hier haben, ob man den Papst mal beim Essen trifft. Und dann sage ich, um das aufs Korn zu nehmen: ja in der Mensa. Man muss sagen: der Papst isst in seinem 'Appartamento'. Er kommt am Vormittag eine Etage tiefer, in den zweiten Stock, wo die Empfangsräume sind. Die Leute, die dem Papst persönlich begegnen. Das ist eine sehr reduzierte Zahl. Heutzutage ist es so, man muss schon ein Staatsoberhaupt oder ein Ministerpräsident sein, um zum Papst vorgelassen zu werden und das auch erst nach langer Absprache mit dem Protokoll."

Auch Thomas Frauenlob trifft den Papst nicht täglich. Auch für ihn haben die Begegnungen mit dem Pontifex Seltenheitswert und sind immer etwas Besonderes. Da ist der Mensch im Vatikan eben auch nur menschlich.

Somit wäre klargestellt: Hinter den Mauern des Vatikan leben auch nur Menschen. Männer - und Frauen. Wobei die Rollen klar verteilt sind. Denn was die Frauenquote in Führungspositionen betrifft, gibt es in diesem Staat klare Regeln: Nur der Mann kann Priester, Bischof, Kardinal, Papst werden. Das heißt aber nicht, dass Frauen im Vatikan keine Karriere machen können. Im "Annuario Pontificio", dem Who is Who im Vatikan, finden wir auf Seite 1229 "Dottoressa Flaminia Giovanelli", die als Untersekretärin im Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden arbeitet. "Untersekretärin" - das klingt weniger, als es ist, tatsächlich ist es die höchste Führungsposition, die Nichtgeistliche in diesem durch und durch geistlichen Staat bekleiden können.

Vor zehn Jahren, sagt man uns, wäre so etwas noch undenkbar gewesen. Unglaublich scheinen auch die statistischen Daten, die die Vereinten Nationen über diesen Ministaat veröffentlichen: Demnach verzeichnet der Vatikanstaat ein Bevölkerungswachstum von 0,01 Prozent. Und bevor jemand Unziemliches vermutet: Im Vatikan leben (im Einklang mit dem Kirchenrecht) Familien. Die Offiziere in der Kaserne der Schweizer Garde genießen im Gegensatz zu ihren Rekruten das Privileg, von der Zölibatspflicht befreit zu sein.

Also: Im Vatikan leben auch nur Menschen. Menschen, die lieben, arbeiten, und einkaufen.

"Wir stehen hier vor dem Bahnhof. Denn bei den Lateranverträgen 1929 brauchte ein Staat eine Repräsentanz und eine Anbindung an die Welt. Wie heutzutage ein Flughafen. Und heute braucht man den Bahnhof nicht mehr und was hat man gemacht? Man hat ihn umfunktioniert zu einem sogenannten Magazzino. Das Magazzino ist ein sehr schönes Kaufhaus, wo man schöne Dinge kaufen kann, Schuhen, Uhren, Kleidung."

Ja, auch Kleidung für Priester, im ersten Stock des Magazzino gibt es eine kleine Abteilung für den Klerus. Messgewänder, Priesterhemden mit Stehkragen, auch einen schwarzen Talar für Monsignore Frauenlob.

"Das ist meins, nur die Ränder sind rot. Das ist das Gewand eines Monsignore."

Eine kleine vatikanische Farbenlehre. Der Papst trägt weiß. Der Kardinal rot. Der Bischof violett. Und die höheren Geistlichen, die Prälaten und Monsignori dürfen am Saum ihres schwarzen Talars violett oder rot tragen. Im Magazzino ist die Auswahl solcher Gewänder eher bescheiden – im Vergleich zu anderen Klerikerläden in Rom. Das legt den Verdacht nahe, dass diese Abteilung eher symbolische Bedeutung hat.

Man könnte auch sagen: ein Feigenblatt. Denn in Wirklichkeit ist das Magazzino ein sehr diesseitig orientierter Duty Free Shop im prächtigen Ambiente eines neoklassizistischen Bahnhofsgebäudes. Zugang haben nur Angestellte und Bewohner. Würde der Vatikan das Kaufhaus auch für Gäste öffnen, gäbe es Ärger mit dem Staat Italien. Wegen all der zollfreien Waren, die hier verkauft werden, im Konsumtempel mitten in den vatikanischen Gärten.

Und wo wir schon einmal hier sind, würden wir uns natürlich gerne auch diese berühmten Anlagen ansehen. Ein englischer Garten, der sich über den Hügel hinter der Petersbasilika erstreckt. Erstaunlich viel Grün für den kleinsten Staat der Welt mit Pinien, Kiefern, Zypressen und Palmen. Wie ein feines Spinnennetz ziehen sich Wege durch den Park. Und wer es bis hierhin geschafft hat (wie wir in Begleitung von Thomas Frauenlob), darf diese Wege auch betreten.

"Man darf in den Gärten spazieren gehen, man kann auch joggen, früh morgens und auch abends. Das wird toleriert und da kann man sich ein wenig sportlich betätigen."

Eine grüne und extrem gut gepflegte Oase inmitten der Millionenstadt Rom. Doch ausgerechnet jetzt am Nachmittag bedeuten einem die Sicherheitskräfte am Eingang des Parks: keinen Schritt weiter.

Hier also enden auch die Kompetenzen unseres Vatikanführers Thomas Frauenlob. Immer Nachmittags werden die Gärten gesperrt. Dann geht der Papst in den Anlagen spazieren, rosenkranzbetend, mit seinen beiden Sekretären.

Wenn wir uns jetzt beeilen würden, schnell zur Kirche, den Aufzug in die Kuppel nehmen, dann könnten wir an einem ganz bestimmten Punkt die drei Spaziergänger sehen – als kleine Punkte in der Ferne. Zwei schwarze und ein weißer.