„Schon zweimal durch die halbe halbierte Stadt gewetzt. [...] Es ist spät geworden. Draußen lauter. Das ist doch kein normales Autohupen mehr. Stehe an der Bar im ersten Stock, zwei Typen kommen rein, fragen, ob sie ‘ne Cola haben können, hätten aber kein Geld, die zu bezahlen, also keine D-Mark. Die Bardame guckt schräg. Wir auch.
,Wie? Habt ihr noch nicht mitgekriegt: Die Mauer ist auf!‘
Mauer. Welche Mauer? DIE Mauer??
Blockade. Brett vorm Hirn. Blockout.“
Victor Schefé: „Zwei, drei blaue Augen“
© dtv
Atemlos aus dem Land

Victor Schefé
„Zwei, drei blaue Augen“dtv, München 2025468 Seiten
24,00 Euro
Der bekannte Schauspieler Victor Schefé hat seinen ersten Roman geschrieben über eine Jugend in der DDR und die Sehnsucht nach Freiheit. Es ist seine eigene Geschichte. Die ist ganz schön wild.
Am 9. November 1989 war die DDR am Ende: der Staat, der seine Bewohner einsperrte, sie fürsorglich bespitzelte, sie drangsalierte, wenn sie nicht spurten, und sie schlimmstenfalls erschoss, wenn sie rauswollten.
Am 9. November 1989 lässt Victor Schefé seinen Roman „Zwei, drei blaue Augen“ beginnen: die Geschichte eines Rostocker Jungen, der drei Jahre zuvor den Ausbruch und den Aufbruch Richtung West-Berlin geschafft hat und dort, nach einem Abend im Hebbel-Theater zur Erinnerung an das Novemberpogrom 1938, die Nacht des Mauerfalls erlebt:
Noch vor der nun einsetzenden rasanten Szenenfolge allgemeinen Freudentaumels eröffnen das Buch drei Seiten Faksimiles. Es handelt sich um die Kopie des Eröffnungsberichts zu einer „Operativen Personen-Kontrolle“ der Abteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit aus dem Jahr 1985.
Darin formuliert die Stasi einen sogenannten Maßnahmenplan, um einen Siebzehnjährigen zu beobachten wegen des Verdachts der – so wörtlich – „Vorbereitungshandlungen für ein widerrechtliches Passieren der Staatsgrenze“.
Dazu gehört unter anderem, alle Bezugspersonen zu überprüfen und das gesamte Wohnumfeld auszuspionieren. Auch die Mutter dieses Siebzehnjährigen findet Erwähnung. Sie ist Journalistin beim Radiosender Rostock und SED-Mitglied. Ein sehr verdientes Mitglied, wie sich herausstellen wird.
Der Überflieger als Systemsprenger
Damit sind die Pole gesetzt, zwischen denen der Magnetismus dieser Geschichte seine Dynamik entfaltet. Hier der hochbegabte, hyperaktive Überflieger, der in der Enge des real existierenden Sozialismus aneckt, bis er zum Systemsprenger wird und nur noch raus will um jeden Preis.
Da die alleinerziehende Mutter mit sozialistischer Musterkarriere, die ihr eigenes Kind den Staatsorganen ausliefert – aus Angst, ihr hoffnungsvoller Sohn könnte womöglich in die Asozialität abgleiten.
Dieser Tassilo Schefe, wie auch der Autor selbst bis zu seiner Ankunft im Westen hieß, hegt nämlich unzulässige Sehnsüchte: nach verbotenen Büchern, nach Platten von Musikern aus dem Westen wie Tina Turner und solchen, die früher oder später in den Westen gehen wie Nina Hagen, nach Sex mit Männern und letztlich nach einem Leben im nichtsozialistischen Ausland.
Künstler-, Abenteuer- und Coming-of-Age-Roman in einem, lässt „Zwei, drei blaue Augen“ die DDR noch einmal Revue passieren, seitenweise atemlos, manchmal innig, selten ostalgisch und oft sehr wütend.
Barocke Form, vielseitige Erzählstimme
Der vielseitige Schauspieler Victor Schefé, mit seinen eigenen blauen Augen ein bekanntes Film- und Fernsehgesicht, hat für seinen ersten Roman eine pikarisch-barocke Form gefunden. Die Erzählung vollzieht sich in Zeitsprüngen vorwärts und rückwärts, schlägt Haken zwischen Kindheitserinnerungen, Liebesszenen und Filmreminiszenzen, durchschossen von Wortspielen, Jargonzitaten, Listen und Zeilen aus Popsongs, zwischen Briefen an Mutter, Oma, Jugendfreundin und Berichten von stundenlangen Vernehmungen. Schilderungen vermeintlich geheimer Treffen mit Freunden und Unterstützern des Ausreisevorhabens werden relativiert durch die Protokolle der alles beobachtenden Stasi.
Die Erzählstimme ist mal der zornige junge Mann, mal ein schwärmerischer Simplicius, mal das fantasiebegabte Kind, mal der begeisterungsfähige Jugendliche, der allerdings schmerzhafte Widersprüche zwischen den sozialistischen Überzeugungen seiner Mutter und der realen Erziehungsdiktatur DDR am eigenen Leib erfährt.
„Unser Stabü-Buch lehrt: Ein Gewehr ist dann eine gute Sache, wenn es für eine gute Sache da ist. Melde mich. ,Aber wer entscheidet, was gut ist?‘ Die Lehrer müssen uns seit der Jugendweihe siezen: ,Hören Sie auf, hier schon wieder provozieren zu wollen.‘ Weiter im STAATSstoff, ich als BÜRGER darf meine Bedenken nicht KUNDEtun = Staatsbürgerkunde. Kotz! Eine Woche später werde ich zur Direktorin beordert. Sollte sich meine derzeitige Einstellung zum Unterrichtsstoff nicht grundlegend ändern, könne sie keine Empfehlung für den Verbleib an der Schule vertreten. Wie der Hase läuft, wird immer deutlicher: Mund halten = Abiturzulassung.“
Solche Tagebuchaufzeichnungen des Jugendlichen sind hier reichlich mitverarbeitet. Der Autor, Jahrgang 1967, konnte für dieses späte Romandebüt auf viel Material zurückgreifen, und entsprechend viel kommt vor in diesem Buch.
Manches aber auch nicht. Ereignisse der Zeitgeschichte nicht nur in der DDR, auch in Chile, Polen, der Sowjetunion, den USA werden angetippt. Die Karriere der vom Erzähler verehrten Rostocker Leichtathletin Marita Koch wird praktisch vollständig mitdokumentiert.
Freuden, Leiden und blinde Flecken
Das Zustandekommen ihrer Weltrekorde im DDR-Dopingsystem klingt jedoch allenfalls im Nebensatz an, als der jugendliche Tassilo, selbst begeisterter Leistungssportler, sich schlagartig steigert, dank, wie es heißt, „Vitaminpillen und so“.
Auch den Gedanken, die geliebte Mutter sei womöglich nicht nur aus Sorge um den fehlgeleiteten Sohn an die Staatssicherheit herangetreten, sondern auch zur Rettung des eigenen Allerwertesten, lässt der Roman gar nicht erst an sich heran. Dafür erfährt man reichlich von den Leiden und Freuden des jungen Tassilo – vielleicht allzu reichlich.
So bleibt das Lektürevergnügen nicht gänzlich ungetrübt. Ein wenig fühlt man sich wie nach einer sehr langen Achterbahnfahrt, die immer neue, überraschende Facetten einer historischen Realität hat aufscheinen und sofort wieder verschwimmen lassen.








