Verzerrter Sound

Von Tim Hannes Schauen · 08.09.2011
Gitarrenverstärker in der Mietwohnung - keine gute Idee! Sie sind einfach zu laut. Zu Hause oder im Proberaum werden von Musikern daher gern so genannte "Amp Modeler" genutzt, die die Gitarren-Sounds am Rechner verzerren.
Die Welt der Rockgitarristen ist der Röhre verfallen: In Vor- und Endstufen von Gitarrenverstärkern bringen sie seit den 1960ern Röhren zum Verzerren - ein Effekt, ohne den die Rock-Historie anders verlaufen wäre.

Zudem hat Rockstarkult viel mit Imitation zu tun: Lange bevor mancher Nachwuchsgitarrist die ersten Akkorde am Lagerfeuer schrammelt, weiß er schon exakt, welche Gitarre und welchen Verstärker er einmal haben muss. Nämlich genau dieselben wie Star X oder Gitarristin Y.

Doch Röhrenverstärker haben auch Nachteile: Sie sind schwer, sie sind groß, sie sind teuer. Vor allem aber müssen 50- oder 100-Watt-Endstufen sehr laut betrieben werden, um den Röhren ihren akustischen Nektar zu entlocken – die Verzerrung.

Amp Modeling ist ein Zauberwort, das die Gitarrengemeinde nun in Einsen und Nullen spaltet. Amp Modeler bilden den Ton klassischer Verstärker digital nach, verschiedene Lautsprecher sowie Typ und Position der virtuell den Ton an der Box abnehmenden Mikrofone gleich mit.

Ab 1998 mischten die ersten Verstärker-Simulanten den Massenmarkt auf. Inzwischen haben zahlreiche Anbieter Modeler im Programm: Behringer, Roland/Boss, aber auch die großen Verstärkerhersteller wie Marshall, Fender und VOX. Amp Modeling gibt es integriert in Verstärker, als separate Vorschaltgeräte - oder als reine Softwarelösung wie Guitar Rig von Native Instruments aus Berlin oder Amplitube.

Für Amp Modeling betreiben die Entwicklungsingenieure enormen Aufwand: Zuerst zeichnen sie die charakteristischen Klangeigenschaften klassischer Verstärkermodelle im Labor auf. Anschließend bilden sie zusammen mit den Kennlinien der im Original verwendeten Röhren Verstärkersound und tonverändernde Reglereinstellungen ab. Digitales Soundprocessing lässt daraus in den Model-Geräten in Echtzeit verblüffend authentische Repliken entstehen.

Über den Marktanteil der Simulationskisten hat Gregor Imbusch einen guten Überblick. Er ist Leiter der Elektro-Gitarrenabteilung eines großen Kölner Musikalienhändlers. Modeling Amps, sagt Gregor Imbusch, verkauft er viele:

Gregor Imbusch: "Jede Menge sogar, sehr beliebt in den letzten Jahren, da sie viel Flexibilität bieten und gerade den Einsteigern alle Klangoptionen zur Verfügung stellen. Ein Röhrenverstärker hat eine sehr intensive Charakteristik, allerdings dann auch nur eben diese. Und Amp Modelling hat eine breite Klangpalette, das heißt, man kann klassische Rocksounds der 60er- und 70er Jahre nachstellen, schöne klare, knackige Countrysounds sowie auch moderne Heavy Metal-Klänge inklusive allen möglichen Effekten, die denkbar sind für die E-Gitarre. Allerdings ist die Intensität nicht so groß, da es sich eben um digitales Modeling handelt. Das heißt, das Gitarrensignal wird in Nullen und Einsen gewandelt, und man hört im direkten Vergleich zur Röhre immer noch, dass da etwas glüht und das Glühen bedeutet gleichzeitig auch Wärme."

Fehlende "Wärme" und Mehrdimensionalität im simulierten Verstärkersignal waren lange die Hauptkritik der Puristen. Beim Amp Modeling setzt mancher Hersteller deshalb auf die Kombination von digitaler Simulation in der Vorstufe, die mit echten Röhren endverstärkt wird.

Amp Modeler erfreuen sich dennoch in Wohnzimmer, Probenraum und bei Aufnahmen großer Beliebtheit. Realismus, Ansprechverhalten und Dynamik, die hohe Auflösung aktueller Verstärkersimulationen sind verblüffend nah am Original. Bei Studioaufnahmen wird kaum noch jemand den Unterschied heraushören können. Auf der Bühne allerdings werden weiterhin echte Verstärker verwendet. Sie sind einfacher zu bedienen - und das Auge hört ja schließlich mit.

Gregor Imbusch: "Röhrenverstärker haben immer noch ihre Daseinsberechtigung, der Klang ist intensiv, sehr tragfähig, allerdings ist das immer mit hohen Lautstärken verbunden. Und wer nicht sein Aggregat im Proberaum ausfahren kann oder auf der Bühne, der wird zuhause Schwierigkeiten haben, diesen Klang einfangen zu können - und da hilft mit Sicherheit ein digitales Amp Modelling."

Entscheidend jedoch für den Klang sind neben Verstärker und der verwendeten Gitarre vor allem die Fertigkeiten des Gitarristen und seiner Finger auf dem Griffbett. Die lassen sich nicht simulieren.