Verzehr von Recht und Vernunft durch die Sicherheitsgesellschaft

Von Peter Alexis Albrecht · 12.04.2011
Die kritische Kriminologie ist eine universitäre Sammelwissenschaft. Mit dem Rechtsstaat teilt sie das Schicksal, in der Sicherheitsgesellschaft überflüssig zu sein.
Zwar vermag sie aufzuklären, wie abweichendes Verhalten entsteht. Aber Rechtsstaat und kritische Kriminologie stören die präventive Aufladung einer Gesellschaft, die auf Sicherheit fixiert ist.

Empfehlungen für wirksame gesellschaftliche Strukturreformen zur Kriminalitätsverhinderung werden häufig als Tretminen angesehen. Ein Politiker, der sich beispielsweise zum Integrationsmodell der ‚Resozialisierung‘ bekennt, ist nahezu schon abgewählt. Das Konzept eines sozial-integrativen Strafrechts der 70er Jahre wurde erst gar nicht realisiert. Es scheiterte mit dem Wohlfahrtsstaat. Dieser zerbrach an der Ökonomie der Gesellschaft. Es fehlten die Ressourcen. Darum wurde gesellschaftliche Abweichung nur noch "kontrolliert und verwaltet". Und darum wurden keine Programme entwickelt, die soziale Ursachen gesellschaftschädigenden Verhaltens erkennen und beseitigen könnten.

Zugleich wurde den Menschenrechten die materielle Basis und politische Aufmerksamkeit geraubt, als sich der Wohlfahrtsstaat zum Präventionsstaat wandelte. Gesellschaft und Individuen sollten mehr für sich selbst sorgen. Der Rückzug des Staates war eingeläutet. Dabei wusste die Kriminologie, dass ein Inhaftierter nur dann erfolgreich wieder eingegliedert werden kann, wenn sich nach der Haftzeit seine soziale Lage nachhaltig verbessert, er den Schutz familiärer Geborgenheit findet und dabei konstruktive Hilfen erhält. Das alles sind an Grundrechte gebundene Kernpflichten staatlichen Strafvollzuges.

Wenn die politisch Verantwortlichen das alles wissen – zumindest wissen müssten –, warum folgen sie diesen Einsichten dann nicht? Die aktuelle Politik legitimiert ihre kriminologische Ignoranz mit dem unerreichbar Bösen im Menschen. Homo homini lupus war schon der Schlachtruf der Voraufklärung. Aber böse ist nicht der Mensch, böse sind die ideologisch verbrämten und ökonomisch getragenen Interessen heutiger Kriminal- und Sozialpolitik. Diese beruhigen mit einer präventiven Ideologie des Schutzes vor schwarzen Schafen die Öffentlichkeit. Sie lenken damit ab vom politischen Versagen gegenüber der tatsächlich bedrohlichen Makro-Kriminalität, die sich in globaler ökonomischer Gier entfesselt.

Die Grundhaltung hat sich verändert. Westliche Industriegesellschaften verlassen den Boden der Menschenrechte, die Basis unverfügbarer Freiheit: als solche gelten die staatliche Achtung der Menschenwürde, Freiheit vor Folter, die Anerkennung von Kernbereichen privater Lebensgestaltung. Das Bundesverfassungsgericht müht sich redlich, aber wie lange noch?

Der Weg führt – unter breiter Zustimmung – in eine Sicherheitsgesellschaft, die ihrerseits nicht Sicherheit, sondern allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit breitester Bevölkerungsschichten produziert. Denn im Zeichen des Strebens nach Sicherheit um jeden Preis ist die Gesellschaft bereit – scheinbar zu ihrem eigenen Schutz –, die Grundlagen des Rechtsstaats aufzugeben, um eine Sicherheit zu erhalten, die sie so nie erhalten wird. Diesen Irrtum, diesen Teufelskreis könnte eine kritische Wissenschaft aufdecken. Aber auch hier treffen wir wieder auf die Prägekraft der Ökonomie. Diese hat das Recht und die kritische Wissenschaft seit langem überholt. Es geht nicht mehr um Recht oder Unrecht, um wahr oder falsch. In der globalen Welt zählt nur noch die ökonomische Frage von Kosten versus Nutzen.

Derzeit lernen wir: Nur ausgemachte Katastrophen geben, wenn überhaupt, Ansätzen von Vernunftdenken eine Chance. Auch für die Kriminalpolitik ist das zu befürchten: Eine ungleiche Gesellschaft wird ohne soziale, ökonomische oder ökologische Katastrophen nicht in eine Gesellschaft von freien Gleichen und in eine von materialer Gerechtigkeit überführt werden können. Aus der Sicht kritischer Kriminologie gibt es nicht nur atomare, sondern auch soziale Verstrahlung – mit ähnlich langen Halbwertzeiten. Alles düstere Perspektiven für das Schicksal der gelobten Zivilgesellschaften.

Peter Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Sein Forschungsgebiet ist das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie den Methoden empirischer Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.

Veröffentlichungen u. a.: "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf dem Weg zu staatskritischen Absolutheitsregeln" (2010). Peter-Alexis Albrecht ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
Peter Alexis Albrecht, Strafrechtler und Kriminologe© privat