Verwirrung als Absicht

Von Martina Zimmermann · 22.04.2012
Nach zehnmonatiger Umbauphase zeigt das Pariser Palais de Tokyo nun in den neuen Ausstellungsräumen die Werke von 113 Künstlern aus 40 Ländern. Die Schau ist im Rahmen der Triennale für zeitgenössische Kunst zu sehen.
In der fabrikartigen Halle hängt von der rohen Betondecke ein Werk von Peter Buggenhout: Ist es Bauabfall, sind es Möbel-, Mauern- oder Autoreste? Die Teile hängen an Drahtgittern von der Decke, braun und dreckig.

Der belgische Künstler schafft Skulpturen als "monumentale Desaster", die zur Meditation anregen sollen. Das neue Zentrum besitzt keine eigene Sammlung, aber Direktor Jean de Loisy zeigt mit dem Festprogramm der Triennale: Vielfältig, offen und international soll das Kunstzentrum sein.

Zur Eröffnung hat Kurator Okwui Enwezor über 100 Künstler aus 40 Ländern zusammengebracht, unter dem Titel "intensive Nähe". Fotografien, Malereien, Skulpturen und Videos hinterfragen unsere globalisierte Welt, in der es keine Entfernungen mehr gibt, in der sich aber viele Menschen auf eine imaginäre Identität zurückziehen möchten. Es geht um Ferne und Nähe, um Identität und Anderssein, um Ethnografie und Dokumentation. Alice Martel ist eine von 15 sogenannten "kulturellen Mediatoren", die den Besuchern Rede und Antwort stehen.

"Die französische Kunstszene ist ja recht dynamisch, aber diese Ausstellung stellt die Frage: kann man Kunst heute auf eine Identität reduzieren, auf eine Staatsangehörigkeit, wo die Künstler doch in der ganzen Welt herumkommen. Sie sind thailändischer Herkunft, aber in Argentinien geboren, leben in Deutschland oder New York wie Rirkrit Tiravanija. Er ist ein Beispiel unter vielen. Hier kann man sehen: Alles ist in Bewegung."

Der "Mariage Room" von dem in Holland lebenden Beniner Meschac Gaba zeigt die Hochzeit einer blonden Holländerin und einem Afrikaner. Fotos dokumentieren eine Hochzeit mit Pferdekutsche und dem schwarzen Bräutigam ganz in Weiß, an der Seite der afrikanischen und der europäischen Familie.

Bilder zeigen das Paar in afrikanischen Gewändern oder in einem europäischem Umfeld: Szenen aus dieser einzigen Welt, zu der wir heute alle gehören.

"Die Ausstellung zeigt einen Querschnitt der Kunstszene und ihren verschiedenen Medien: Fotos, Videos, Installationen. Und dann kann die Ausstellung unter verschiedenen Themen angegangen werden: Es gibt den Aspekt, dass viele Künstler außerhalb Europas geboren sind.

Dann gibt es den ethnografischen Aspekt mit Fotos von Anthropologen, die Künstler sich angeeignet und interpretiert haben. Es geht auch um die Ästhetik der Dokumentarfilme: Viele Künstler übernehmen diese auf Fotos und Videos und fragen, wo ist der Teil der Fiktion und wo ist der Teil der Subjektivität."

Zum Beispiel bei dem berühmten Foto von der entsetzten Hillary Clinton, die im Weißen Haus unter lauter Männern, darunter Barack Obama, die Festnahme und den Tod von Ben Laden verfolgt. Der in New York lebende Chilene Afredo Jarr hat es für sein Werk mit dem Titel "1. Mai 2011" auf einen Bildschirm gebannt. Der zweite Bildschirm gegenüber ist leer. Diese Leere empfindet der Zuschauer, der nie erfahren wird, was der amerikanische Sicherheitsstab damals eigentlich gesehen hat.

Auf einer einfachen Betontreppe mit Eisengeländer geht es in die unteren Etagen, die Atmosphäre verdüstert sich: Die Betonhallen erinnern an ein Parkhaus, Videoinstallationen zeigen beängstigende Szenen und schaffen Weltuntergangsstimmung.

Nur die Bühne vor einem Saal mit mehreren Klavierflügeln bricht mit diesen finsteren Emotionen: Sie ist in grellen bunten Farben. Mehrere Kinosäle und ein Auditorium laden ein zu Filmvorführungen und Konferenzen. Alice Martel erklärt:

"Die Leute sind von Ausstellungen eher gewohnt, dass es einen Weg gibt, der von einem Werk zum nächsten führt. Hier gibt es die drei Räume der Triennale und man kann sich den Weg selbst wählen. Man kann an jedem beliebigen Ort anfangen und aufhören, manche Besucher verwirrt das."

Die Verwirrung ist Absicht – eine Metapher für die globalisierte Welt, von der sich die zeitgenössischen Künstler inspirieren lassen. Das für rund 20 Millionen Euro umgebaute Palais de Tokyo bietet nun auf rund 22.000 Quadratmetern jede Menge Raum für ihre Projekte. Die Umbauarbeiten dauerten zehn Monate, die Fläche wurde fast verdreifacht. Die offizielle Einweihung fand durch den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy statt. Dazu Alice Martel:

"Es ist normal, dass der Präsident in Frankreich bedeutende kulturelle Orte einweiht. Da nun zudem Wahlkampf war, war es für ihn noch wichtiger, sich auch im Kulturbereich zu zeigen."

Paris fehlt es weder an Museen noch an Galerien, aber nun hat die Stadt einen Ort, der einzig und allein der Experimentierfreudigkeit moderner Künstler gewidmet ist.