Verwirrende andere Welt

Rezensiert von Edelgard Abenstein |
In Hartmut Langes "Der Wanderer" geht es um einen Schriftsteller in geordneten Verhältnissen, der ein neues Romanprojekt in Angriff nimmt. Wohin es ihn führen wird, weiß er noch nicht. Während er mit allerlei Beobachtungen in seiner Umgebung befasst ist, die in sein neues Buch eingehen sollen, rollen die Ereignisse über ihn hinweg. Er bricht auf in eine verwirrende andere Welt.
Man denkt an Eichendorff, Caspar David Friedrich und romantische Naturschauspiele, an Aufbruch und Abschied. Schon der Titel birgt eine Irritation: "Der Wanderer". Freilich, bei Hartmut Lange erschallt kein Hörnerklang, sein Wanderer ist ganz von dieser Welt. Ein nicht mehr sehr junger Schriftsteller in geordneten Verhältnissen, verheiratet und erfolgreich in seinem Beruf, nimmt ein neues Romanprojekt in Angriff. Wohin es ihn führen wird, weiß er noch nicht. Während er mit allerlei Beobachtungen in seiner Umgebung befasst ist, die in sein neues Buch eingehen sollen, rollen die Ereignisse über ihn hinweg. Seine Frau Anita scheint ihn zu betrügen. Heimlich hat sie die gemeinsame Wohnung verlassen. Ihr Ehemann vermutet sie und den Liebhaber in Kapstadt und bricht dorthin auf, in eine verwirrende andere Welt.

"Nichts ist, wie es scheint. Oder doch?" Es ist das Ambivalente, das Ungefähre, nie mit Gewissheit Auszumachende, das den Helden umtreibt und seine Phantasie anstachelt. Wie, so fragt er, lässt es sich richtig deuten? Und was ist schon richtig? Das Unbegreifliche steht für mehr als nur eine schön ausgeschmückte Atmosphäre.

Hartmut Lange, der neben einem einzigen Roman eine Reihe von Theaterstücken geschrieben hat, gilt als der Wiederentdecker der Novelle in der deutschen Gegenwartsliteratur. Mit mehr als 20 Geschichten von maximal 140 Seiten hat er seit den 80er Jahren immer wieder neu dieses Genre erkundet. Literarisch ergiebig erscheint es ihm, weil es als Zwitter "zwischen Drama und Prosa", wie er einmal formuliert hat, "zielsicher", und hochdramatisch auf den einen, alles umstürzenden Punkt "zumarschiert". Einer strengen Ökonomie folgend, erlaubt es keine Nebenwege, kein malerisches Parlando. Die Rolle der von der Poetik des 18. Jahrhunderts geforderten unerhörten Begebenheit übernimmt bei Hartmut Lange eine winzige Irritation, eine minimale Abweichung im Gefüge des Alltags. Es sind die Ungereimtheiten, denen er eine beinahe totalitäre Macht zuerkennt: Sie werden zur fixen Idee. Dankbare Opfer sind diejenigen, die bislang selbstgewiss durch das Leben schritten, versehen mit ausreichend Geld, Bildung und gesellschaftlicher Reputation. Auch "Der Wanderer" gehört zu ihnen. Seine Welt ist mit geliehenem Geld gekauft, allerlei Hypotheken lasten auf ihr, Verdrängung, Angst und immer wieder die Frage nach dem Sinn.

Ein gewöhnliches Vorkommnis, das bei genauerer Beobachtung zunehmend rätselhafter wird wie das Rücken von Möbeln in der benachbarten Wohnung, ein sonderbares Benehmen wie das neuerliche Räuspern der Lebensgefährtin, dessen Grund sich nicht unmittelbar erschließt - das genügt, um den Schriftsteller aus dem Tritt zu bringen. Einmal irritiert, verlieren die bisherigen Selbstverständlichkeiten ihre Bedeutung - auch für die Leser, die Hartmut Lange mit staunenswertem Sinn für Spannung ins Ungewisse versetzt. Denn er spielt auf raffinierte Weise mit den Perspektiven. Gerade, weil er so lakonisch schlicht, so klassisch klar erzählt und seine Geschichte mit genauen Orts-, Wetter- und Gemütsbeschreibungen erdet, treten die Abgründe dahinter umso unheimlicher hervor.

Hartmut Lange hat von der Kritik viel Lob erfahren. Seine Bücher werden aber, abgesehen von einer treuen Lesergemeinde, nicht gerade mit Spannung erwartet. Vielleicht liegt es an dem wiederkehrenden Muster seiner Erzählungen oder an der Diskretion, mit der er - zeitgeistwidrig - seine Figuren behandelt. Oder daran, dass er Fragen stellt, ohne Ratschläge an die Hand zu geben. Schade eigentlich. Denn von der Ahnung, wie zerbrechlich unsere Lebenskonstruktionen sind, ist schließlich jeder schon mal gestreift worden.

Hartmut Lange, Der Wanderer. Novelle. Diogenes Verlag. Zürich 2005. 118 Seiten, 17,90 Euro.