Verwerfungen eines Jahrhunderts
Jiri Weils Erzählungen liegen eigene Erlebnisse zugrunde. Vom sanft Dadaistischen bis zur erschütterten Klage, von der distanzierten Schilderung bis zum lyrischen Gesang – der Band „Sechs Tiger in Basel“ zeigt die breite Skala von den Ausdrucksmöglichkeiten des Autors. Die 25 Erzählungen sind chronologisch geordnet von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit.
Der Erzähler, ein Ausländer, reist nach Moskau, um den verehrten Dichter Jessenin auf einer Versammlung der Futuristen zu treffen. Dabei stürmen die Imaginisten den Saal und beginnen eine Prügelei. Der Ausländer flüchtet und trifft einen Dichter, der den Nitschewoki angehört.
Die Nitschewoki sind bei den 26 anderen sowjetischen Dichterschulen sehr beliebt. Sie dürfen nämlich nichts schreiben: nitschewo. Gemeinsam mit dem nicht schreibenden Dichter findet der Ausländer Jessenin: Er liegt bei einem anderen Treffen im Vollrausch unter dem Tisch. Zum Trost erhält der Ausländer eine kleine Jessenin-Gipsbüste. Auf der Rückreise in die Heimat gerät sein Dampfer in einen Sturm, und ein französischer Gewerkschafter organisiert die Besetzung der ersten Klasse durch die Proletarier vom Unterdeck. Im Hafen von Stettin zertrümmert der deutsche Zöllner die Jessenin-Büste mit einem Hämmerchen, weil er in ihr Diamanten vermutet.
„Die Büste des Dichters“ gehört zu den vergnüglichsten Erzählungen von Jiří Weil in „Sechs Tiger in Basel“. Später folgt eine seiner bittersten: der „Klagegesang für 77297 Opfer“ – Opfer der Nationalsozialisten in Böhmen und Mähren. Weil montiert in ihm lakonische Beschreibungen, pathetische Klagen und Zitate aus dem Alten Testament.
Vom sanft Dadaistischen bis zur erschütterten Klage, von der distanzierten Schilderung bis zum lyrischen Gesang – der Band „Sechs Tiger in Basel“ zeigt die breite Skala von Weils Ausdrucksmöglichkeiten. Die Herausgeber Urs Heftrich und Bettina Kaibach haben ihre Auswahl von 25 Erzählungen chronologisch geordnet von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit. In einem eindrucksvollen Nachwort beschreibt Bettina Kaibach, auf welch zurückhaltende Weise Jiří Weil für den Augenblick, für das Schöne und das Zweckfreie Partei ergreift. Stets gibt er der Irritation den Vorrang vor der Moral: Die Titelgeschichte erzählt von einem berühmten tschechischen Dompteur, der mit sechs Tigern nach Basel geflüchtet ist, einen deutschen Vornamen angenommen hat, im Zirkus eines vertriebenen Deutschen auftritt und Deutsch mit den Tigern spricht; er will sie „germanisieren“, klagt der Tierpfleger dem Erzähler. Dieser verlässt die Bierstube, um die Plakate mit den Tigern an den Hauswänden zu betrachten. Dass er es kommentarlos tut und die Zirkustiger nicht als Tschechen in der Fremde sehen mag wie der Pfleger, fordert den Leser selbst zum Urteil auf.
Jiří Weils (1900-1959) Erzählungen liegen eigene Erlebnisse zugrunde, nicht anders als seinen Romanen. „Moskau – die Grenze“ von 1937 schildert, wie Weil im Moskau der stalinistischen Säuberungen aus der KP ausgeschlossen und deportiert wird, „Leben mit dem Stern“ erzählt 1949 von der Vernichtung der tschechoslowakischen Juden, und das 1960 erschienene Buch „Mendelssohn auf dem Dach“ handelt von Verfolgung und Widerstand im von den Deutschen besetzten Prag, wo Weil in Verstecken überlebte. Alle Romane haben ihm Schwierigkeiten eingebracht, „Leben mit dem Stern“ sogar ein siebenjähriges Publikationsverbot: die Partei kannte nur Antifaschisten, nicht Juden als Opfer der Nazis. Welchem Druck und welcher Angst diese absichtslos und leichthändig daherkommenden Erzählungen mit ihrer ungewöhnlichen Mischung aus Groteske und Tragödie abgerungen sind, lässt sich nur erahnen.
Rezensiert von Jörg Plath
Jiri Weil: Sechs Tiger in Basel. Erzählungen. Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach. Kommentiert von Michael Špirit. Libelle Verlag. Konstanz 2007. 224 Seiten, 17,90 Euro.
Die Nitschewoki sind bei den 26 anderen sowjetischen Dichterschulen sehr beliebt. Sie dürfen nämlich nichts schreiben: nitschewo. Gemeinsam mit dem nicht schreibenden Dichter findet der Ausländer Jessenin: Er liegt bei einem anderen Treffen im Vollrausch unter dem Tisch. Zum Trost erhält der Ausländer eine kleine Jessenin-Gipsbüste. Auf der Rückreise in die Heimat gerät sein Dampfer in einen Sturm, und ein französischer Gewerkschafter organisiert die Besetzung der ersten Klasse durch die Proletarier vom Unterdeck. Im Hafen von Stettin zertrümmert der deutsche Zöllner die Jessenin-Büste mit einem Hämmerchen, weil er in ihr Diamanten vermutet.
„Die Büste des Dichters“ gehört zu den vergnüglichsten Erzählungen von Jiří Weil in „Sechs Tiger in Basel“. Später folgt eine seiner bittersten: der „Klagegesang für 77297 Opfer“ – Opfer der Nationalsozialisten in Böhmen und Mähren. Weil montiert in ihm lakonische Beschreibungen, pathetische Klagen und Zitate aus dem Alten Testament.
Vom sanft Dadaistischen bis zur erschütterten Klage, von der distanzierten Schilderung bis zum lyrischen Gesang – der Band „Sechs Tiger in Basel“ zeigt die breite Skala von Weils Ausdrucksmöglichkeiten. Die Herausgeber Urs Heftrich und Bettina Kaibach haben ihre Auswahl von 25 Erzählungen chronologisch geordnet von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit. In einem eindrucksvollen Nachwort beschreibt Bettina Kaibach, auf welch zurückhaltende Weise Jiří Weil für den Augenblick, für das Schöne und das Zweckfreie Partei ergreift. Stets gibt er der Irritation den Vorrang vor der Moral: Die Titelgeschichte erzählt von einem berühmten tschechischen Dompteur, der mit sechs Tigern nach Basel geflüchtet ist, einen deutschen Vornamen angenommen hat, im Zirkus eines vertriebenen Deutschen auftritt und Deutsch mit den Tigern spricht; er will sie „germanisieren“, klagt der Tierpfleger dem Erzähler. Dieser verlässt die Bierstube, um die Plakate mit den Tigern an den Hauswänden zu betrachten. Dass er es kommentarlos tut und die Zirkustiger nicht als Tschechen in der Fremde sehen mag wie der Pfleger, fordert den Leser selbst zum Urteil auf.
Jiří Weils (1900-1959) Erzählungen liegen eigene Erlebnisse zugrunde, nicht anders als seinen Romanen. „Moskau – die Grenze“ von 1937 schildert, wie Weil im Moskau der stalinistischen Säuberungen aus der KP ausgeschlossen und deportiert wird, „Leben mit dem Stern“ erzählt 1949 von der Vernichtung der tschechoslowakischen Juden, und das 1960 erschienene Buch „Mendelssohn auf dem Dach“ handelt von Verfolgung und Widerstand im von den Deutschen besetzten Prag, wo Weil in Verstecken überlebte. Alle Romane haben ihm Schwierigkeiten eingebracht, „Leben mit dem Stern“ sogar ein siebenjähriges Publikationsverbot: die Partei kannte nur Antifaschisten, nicht Juden als Opfer der Nazis. Welchem Druck und welcher Angst diese absichtslos und leichthändig daherkommenden Erzählungen mit ihrer ungewöhnlichen Mischung aus Groteske und Tragödie abgerungen sind, lässt sich nur erahnen.
Rezensiert von Jörg Plath
Jiri Weil: Sechs Tiger in Basel. Erzählungen. Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach. Kommentiert von Michael Špirit. Libelle Verlag. Konstanz 2007. 224 Seiten, 17,90 Euro.