"Verweile doch ... Ein Gespräch über die Zeit"

05.01.2008
"Ich habe keine Zeit!" Dieser Seufzer kommt uns schnell über die Lippen, wenn wir nicht das schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Der Tag scheint uns zu kurz, die Liste der Erledigungen zu lang, wir hetzen von Termin zu Termin – immer den bangen Blick auf die Uhr. Und abends fragen wir uns: Wo sind die Stunden geblieben?
"Der Satz, ´Ich habe keine Zeit`, ist die größte Selbstlüge", konstatiert der Zeitforscher Karlheinz Geißler. Der Wirtschaftspädagoge und Buchautor beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der Zeit und unserem Umgang damit.

Seine Erkenntnis: Die meisten Menschen gehen mit falschen Erwartungen an ihre Zeit heran: " Zeit ist kein Gegenstand – Zeit ist eine Illusion. Was man Zeit nennt, ist eine Bewegung von Zeigern auf einem Ziffernblatt. Es ist wichtig, dass wir die Zeit qualitativ definieren. Dass wir ihr Tätigkeiten geben. Deshalb ist die Formel ´Ich habe keine Zeit` nur eine Entschuldigung oder Ausrede, um zu sagen, ´Ich habe keine Lust` oder `Ich möchte etwas anderes machen."

Zeit zu sparen sei ebenso eine Illusion, wie der verzweifelte Versuch, sich mithilfe von Zeitmanagement-Seminaren mehr Freiraum zu verschaffen.
"Wir haben verlernt, ´genug!` zu sagen." Viele Menschen versuchten, zwei Leben in einem zu leben, könnten auf nichts verzichten. Und wenn wir uns Geräte anschaffen, die uns vermeintlich helfen, Zeit zu sparen, dann würden wir die vermeintlich gewonnene Zeit wieder verplanen.

"Wir haben unseren Alltag verdichtet, den Zeitdruck erhöht. Auf der anderen Seite haben wir ein rapides Wachstum an Möglichkeiten, uns zu entscheiden. Nur auch Entscheidungen kosten Zeit, das macht hektisch. Wenn wir alle ungenützten Möglichkeiten realisieren, geraten wir immer mehr unter Druck. Wir leben gleichzeitig in der Fülle und im Mangel."

Geißler hat dafür den Begriff des "Simultanten" geprägt, den modernen Menschen, der alles gleichzeitig macht: Wir essen vor dem Fernseher, telefonieren oder chatten beim Zugfahren, bügeln beim Fernsehgucken, telefonieren beim Autofahren. Mehr Zeit haben wir dadurch nicht …

Karlheinz Geißler, der auch Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik ist, ist durch eine persönliche Erfahrung zum Thema Zeit gekommen: Er erkrankte mit fünf Jahren an Kinderlähmung."Ich habe früh auf der Tribüne Platz nehmen und den anderen beim Beschleunigen zuschauen müssen." Dabei hat er aus der Not eine Tugend gemacht. "Ich habe mein Hirn beschleunigt" oder wie er auch gern sagt: "Ich hinke meiner Zeit voraus."

Es habe ihn fasziniert, eine Form der Bewegung zu finden, ohne zu beschleunigen.

Er habe auch lernen müssen, dass Verzicht auch Gewinn sein kann.
Der heute 63-Jährige liebt die Momente der Langeweile und der Muße, das Gefühl zu haben, Zeit zu verschwenden und Zeit zu verschenken. Und er plädiert für ein Leben jenseits des Beschleunigungszwangs.

"Verweile doch … Ein Gespräch über die Zeit" Gisela Steinhauer diskutiert gemeinsam mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800–22542254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet unter www.zeitpolitik.de

Karlheinz Geißler hat mehrere Bücher über das Thema Zeit geschrieben, u.a.
"Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort – Unsere Suche nach dem pausenlosen Glück", Verlag Herder spektrum, 2007