Verwaiste Kirchen: Säkularisierung

Von Josef Schmid · 05.04.2005
"Ein Gespenst geht um", so beginnt ein berühmtes Manifest, doch diesmal nicht in Europa, wie es darin weiter heißt, sondern außerhalb Europas. Es ist der Bedeutungsanstieg der Religionen, den der aufgeklärte, säkularisierte Westeuropäer als Gespensterzug wahrnimmt. Die Voraussage des französischen Literaten und De Gaulle-Ministers André Malraux, das 21. Jahrhundert werde ein religiöses sein, scheint pünktlich eingetroffen.
Die byzantinische Ostkirche rückt wieder an die Stelle, die eine politische Ideologie Jahrzehnte lang besetzt hielt. In Westasien und Nordafrika rüstet der Islam auf. Der Hinduismus ist trotz indischer Demokratie auf dem Weg zur Staatsreligion. Der Buddhismus stabilisiert ein politisch instabiles Ostasien: Der Lamaismus schützt Tibet schlecht und recht vor chinesischer Überfremdung; der Shinto-Glaube ist in Japan der ruhende Pol, ohne den das Land die exzessive Spannung zwischen Tradition und Modernität nicht hätte ertragen können.

Afrika scheint gespalten zwischen einem Vordringen des Islam und einer Rückkehr zur Naturreligion. Eine ähnliche, solche Rückkehr glaubt man auch in den Andenstaaten zu spüren, obwohl die katholische Religion in Lateinamerika unangefochten vorherrscht.

Und dann ist da noch etwas: das weiße, angelsächsische, protestantische Nordamerika, voran die USA, zelebriert eine Religiosität, einen Gleichklang von Kirchengemeinde und nationalem Selbstverständnis, dass dem säkularisierten, religiös ernüchterten Westeuropa angst und bange wird.

Denn eines steht fest: Religiosität als Weltbewegung ist nicht einsames Gebet, Selbstversenkung und individuelle Askese, wofür der Europäer mehr und mehr psychologische Dienste in Anspruch nimmt. Religiosität ist andernorts kollektive Sammlung und Antrieb, eine innere Ressource zum Festhalten an Zielen, die im Verband von Großfamilien oder des Staates angesteuert werden.

In einer Welt der Wiederkehr des Religiösen, seiner geopolitischen Erweckung, ist das säkularisierte Europa eine einsame Erscheinung. Es hat nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst von der Religion getrennt. Das muss uns klar vor Augen führen, dass wir es sind, die auf einem einsamen Sonderweg wandeln und ihn für den allein gültigen und allgemein gangbaren halten. Doch für die anderen ist nur unser Lebensstil attraktiv, keinesfalls der Weg dahin.

Dass die christlichen Gottesdienste nicht gerade an Überfüllung leiden, weiß man. Doch Berichte, dass Gotteshäuser zum Verkauf stehen, lassen aufhorchen. Rückgang der deutschen Bevölkerung und deren Kirchensteuer und Priestermangel stellen vor die Wahl, weiterhin Personal und Dienste abzubauen oder sich von Gebäuden zu trennen. Und dann geht eben altehrwürdiges Gemäuer an Banken, Textil und Gastronomie.

Nebenbei bemerkt: Solche Sorgen, wie sie das deutsche Christentum hat, kennt die islamische Wahabiten-Religion des saudiarabischen Königshauses nicht. Das pumpt anstandslos nach Europa Gelder in den Moscheebau und in merkwürdige islamische Unterweisung der Migrantenkinder. Es passt zu unserer Mentalität, dass wir das jahrelang nicht bemerken. Wenn unsere Toleranz nur auf Unverständnis beruht und unsere Weltoffenheit auf Weltunkenntnis, dann werden wir auch auf unseren Werten sitzen bleiben wie auf unverkäuflicher, zu teurer Luxusware.

Während man in anderen Kontinenten ums Lebensnotwendige kämpft, dafür aber die religiös-geistigen Daseinsgründe gesichert weiß, liegt der Fall bei den aufgeklärten Westeuropäern umgekehrt: Sie sind zwar dem Kampf ums nackte Überleben enthoben, sind aber unfähig, die geistigen Grundlagen ihres Kontinents nach innen und außen verbindlich festzulegen. Sie spielen stattdessen mit dem Gedanken, diese ihre Schwäche in Stärke umzudeuten.

Halten wir technische und kommerzielle Anpassung für das Wichtigste und eine hohe Scheidungsziffer für unumgänglich, dann ist Religion ein Störfaktor auf der Bahn zu Fortschritt und Freiheit. Westeuropa ist aber nur so lange ein begehrtes Lebensmodell, bis andere Völker ähnliche materielle Erfolge anstreben und verbuchen, ihre geistig-religiösen Bindungen dagegen nicht verdorren lassen.

Soll etwas Dauerhaftes gegründet sein, etwa ein politisches Europa, das sich in einer Welt gigantischer Machtverschiebungen bewährt, dann greift flexible Anpassung zu kurz. Dann braucht es eine geistige Grundlage, die ihre religiösen Anteile bewusst aufnimmt und verteidigt, wie es in allen anderen Teilen der Welt geschieht.

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit 1980 ist Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.