Vertreibung im Spiegel der Gefühle
<strong> Wie es scheint, haben die deutschen Heimatvertriebenen - vor allem die Organisierten unter ihnen und ihre Sprecher - die Geschichte ihrer Leiden besonders lange und hartnäckig auf eine Weise erzählt, die sich gegen anderes Leiden unempfindlich gab. </strong>
Wenn mich 1957 oder 1958, als ich sieben und acht Jahre alt war, jemand gefragt hätte, was denn das Schlimmste am letzten Krieg gewesen sei, dann hätte ich eine klare Antwort gehabt. Das Schlimmste, so hätte ich geantwortet, waren die Bombenangriffe der Engländer und Amerikaner, all die zertrümmerten Häuser, und das Zweitschlimmste war das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen im eiskalten Russland. Ein paar Jahre später hätte ich vielleicht auch die Vertriebenen erwähnt. Von dem, was sie erlitten hatten, erfuhr ich einiges, als mein Vater auf dem großen Tisch in seinem Maleratelier Entwürfe für vier prächtige Wappen anfertigte. Sie wurden in glasierter Keramik ausgeführt und zierten bald die Giebelseiten von vier Häusern einer Siedlung, die damals in der kleinen Stadt am Niederrhein, aus der ich stamme, für jene Vertriebenen gebaut wurde. Es waren die Wappen der fernen Gegenden, aus denen sie stammten und in die sie nun nicht mehr zurückkehren konnten: Danzig, Pommern, Schlesien, Sudetenland.
Mir scheint, in ihrer strikten Ausrichtung auf deutsches Leid unterschied sich meine kindliche Perspektive nicht wesentlich von dem Tunnelblick, mit dem auch der erwachsene Teil des westlichen Deutschlands damals die Kriegszeit und ihre Leidensfolgen ansah. Inzwischen mutet es uns – oder jedenfalls die meisten von uns - befremdlich und fast unbegreiflich an, dass unser Land, nachdem es so viel Leid über ganz Europa und die Welt gebracht hatte, zu allererst der eigenen Leiden gedachte. Doch solcher Opferegoismus, der anderes Leiden nicht wahrzunehmen vermag oder nicht wahrhaben will, scheint bei der Bewältigung von extremem Leiden ein, wenn man so sagen darf, normales Phänomen zu sein. Für Menschen, die unermessliches Leid erlitten haben, ist das eigene Leiden fast immer das schlimmste und verstellt - zumindest für eine gewisse Zeit - den Blick auf das Leiden anderer.
Viel Zeit und viel emotionale und intellektuelle Kraft sind vonnöten, bis ein Leid tragendes Land als ganzes lernt, das eigene Leiden zu sehen, ohne fremdes Leiden zu übersehen; bis eine ganze Gesellschaft wirklich begreift, dass es neben der eigenen auch andere Leidensgeschichten gibt, dass all diese Geschichten ihr eigenes Recht haben und dass man manchen der fremden Leidensgeschichten gerechterweise sogar den Vortritt vor der eigenen Geschichte lassen muss.
Wie es scheint, haben die deutschen Heimatvertriebenen - vor allem die Organisierten unter ihnen und ihre Sprecher - die Geschichte ihrer Leiden besonders lange und hartnäckig auf eine Weise erzählt, die sich gegen anderes Leiden unempfindlich gab. Dabei hatten die Vertriebenen schon in ihrer Charta von 1950 den Verzicht auf Rache und Vergeltung und ihren Willen zur Teilnahme am Aufbau eines friedlichen Europa verkündet. Doch die Art, wie sie ihre Geschichte präsentierten, blieb noch lange selbstbezogen und mutete zumindest nach außen hin unversöhnlich an. Die Folgen davon zeigen sich bis heute.
Auf Initiative des Bundes der Vertriebenen wurde vor einigen Jahren ein "Zentrum gegen Vertreibungen" gegründet. Dessen Plan, eine Dokumentations- und Gedenkstätte zu errichten, hat vor allem in Polen zu heftigen Protesten geführt, die oft mit dem historischen Symbolwert des geplanten und durchaus sinnvollen Standorts Berlin in Verbindung gebracht werden. In Wahrheit jedoch sind die Proteste wohl eher ein zwar verständliches, aber eben doch nicht mehr gerechtfertigtes Echo auf jene Unversöhnlichkeit.
Schon die Gründung dieses Zentrums, das sich ausdrücklich "Vertreibungen" im Plural zum Thema macht und nicht allein die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt, dass es mit der Unversöhnlichkeit nun auch bei den organisierten Vertriebenen - bei vielen von ihnen - ein Ende hat.
Hier wird ein Ort entstehen, an dem schwierige, konflikthafte Geschichten aufeinander stoßen können und sollen - und natürlich kann das Ziel nicht darin bestehen, aus all diesen Geschichten am Ende eine allgemein verträgliche Konsens-Geschichte zu flechten. Wenn unterschiedliche Leidensgeschichten ihr Besonderes und all das, was sie überliefernswert macht, bewahren sollen, müssen sie in ihrer Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit bestehen bleiben dürfen. Ein Übermaß an Einigkeit oder Einigungswille wäre ihnen sogar abträglich. Damit sie und diejenigen, die sie erzählen, zusammenkommen und aufeinander stoßen können, bedarf es nicht der Bereitschaft zum Konsens, sondern "nur" der Bereitschaft, anderen zuzuhören und aus dem Tunnel ins Offene zu treten.
Reinhard Kaiser, Schriftsteller und Übersetzer, wurde 1950 in Viersen am Niederrhein geboren und lebt in Frankfurt am Main. Er studierte in Berlin, Paris, Köln und Frankfurt und hat Bücher von Isaiah Berlin, Georges Duby, Nancy Mitford, Irene Dische, Sylvia Plath, Sam Shepard, Susan Sontag, Sybille Bedford und vielen anderen übersetzt. Seine eigenen Bücher: "Der Zaun am Ende der Welt" (1989), "Der kalte Sommer des Doktor Polidori" (1991), "Eos' Gelüst" (1995), "Literarische Spaziergänge im Internet" (1996), "Königskinder. Eine wahre Liebe" (1996, 2004), "Mein elektronischer Schreibtisch" (1999), "Unerhörte Rettung. Die Suche nach Edwin Geist" (2004). Im Jahre 2000 erschien, von ihm zusammen mit Margarete Holzman herausgegeben: "Dies Kind soll leben. Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944". - Reinhard Kaiser wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (1997), dem Geschwister-Scholl-Preis für die Herausgabe der Aufzeichnungen von Helene Holzman (2000) und zuletzt mit dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2003).
Mir scheint, in ihrer strikten Ausrichtung auf deutsches Leid unterschied sich meine kindliche Perspektive nicht wesentlich von dem Tunnelblick, mit dem auch der erwachsene Teil des westlichen Deutschlands damals die Kriegszeit und ihre Leidensfolgen ansah. Inzwischen mutet es uns – oder jedenfalls die meisten von uns - befremdlich und fast unbegreiflich an, dass unser Land, nachdem es so viel Leid über ganz Europa und die Welt gebracht hatte, zu allererst der eigenen Leiden gedachte. Doch solcher Opferegoismus, der anderes Leiden nicht wahrzunehmen vermag oder nicht wahrhaben will, scheint bei der Bewältigung von extremem Leiden ein, wenn man so sagen darf, normales Phänomen zu sein. Für Menschen, die unermessliches Leid erlitten haben, ist das eigene Leiden fast immer das schlimmste und verstellt - zumindest für eine gewisse Zeit - den Blick auf das Leiden anderer.
Viel Zeit und viel emotionale und intellektuelle Kraft sind vonnöten, bis ein Leid tragendes Land als ganzes lernt, das eigene Leiden zu sehen, ohne fremdes Leiden zu übersehen; bis eine ganze Gesellschaft wirklich begreift, dass es neben der eigenen auch andere Leidensgeschichten gibt, dass all diese Geschichten ihr eigenes Recht haben und dass man manchen der fremden Leidensgeschichten gerechterweise sogar den Vortritt vor der eigenen Geschichte lassen muss.
Wie es scheint, haben die deutschen Heimatvertriebenen - vor allem die Organisierten unter ihnen und ihre Sprecher - die Geschichte ihrer Leiden besonders lange und hartnäckig auf eine Weise erzählt, die sich gegen anderes Leiden unempfindlich gab. Dabei hatten die Vertriebenen schon in ihrer Charta von 1950 den Verzicht auf Rache und Vergeltung und ihren Willen zur Teilnahme am Aufbau eines friedlichen Europa verkündet. Doch die Art, wie sie ihre Geschichte präsentierten, blieb noch lange selbstbezogen und mutete zumindest nach außen hin unversöhnlich an. Die Folgen davon zeigen sich bis heute.
Auf Initiative des Bundes der Vertriebenen wurde vor einigen Jahren ein "Zentrum gegen Vertreibungen" gegründet. Dessen Plan, eine Dokumentations- und Gedenkstätte zu errichten, hat vor allem in Polen zu heftigen Protesten geführt, die oft mit dem historischen Symbolwert des geplanten und durchaus sinnvollen Standorts Berlin in Verbindung gebracht werden. In Wahrheit jedoch sind die Proteste wohl eher ein zwar verständliches, aber eben doch nicht mehr gerechtfertigtes Echo auf jene Unversöhnlichkeit.
Schon die Gründung dieses Zentrums, das sich ausdrücklich "Vertreibungen" im Plural zum Thema macht und nicht allein die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt, dass es mit der Unversöhnlichkeit nun auch bei den organisierten Vertriebenen - bei vielen von ihnen - ein Ende hat.
Hier wird ein Ort entstehen, an dem schwierige, konflikthafte Geschichten aufeinander stoßen können und sollen - und natürlich kann das Ziel nicht darin bestehen, aus all diesen Geschichten am Ende eine allgemein verträgliche Konsens-Geschichte zu flechten. Wenn unterschiedliche Leidensgeschichten ihr Besonderes und all das, was sie überliefernswert macht, bewahren sollen, müssen sie in ihrer Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit bestehen bleiben dürfen. Ein Übermaß an Einigkeit oder Einigungswille wäre ihnen sogar abträglich. Damit sie und diejenigen, die sie erzählen, zusammenkommen und aufeinander stoßen können, bedarf es nicht der Bereitschaft zum Konsens, sondern "nur" der Bereitschaft, anderen zuzuhören und aus dem Tunnel ins Offene zu treten.
Reinhard Kaiser, Schriftsteller und Übersetzer, wurde 1950 in Viersen am Niederrhein geboren und lebt in Frankfurt am Main. Er studierte in Berlin, Paris, Köln und Frankfurt und hat Bücher von Isaiah Berlin, Georges Duby, Nancy Mitford, Irene Dische, Sylvia Plath, Sam Shepard, Susan Sontag, Sybille Bedford und vielen anderen übersetzt. Seine eigenen Bücher: "Der Zaun am Ende der Welt" (1989), "Der kalte Sommer des Doktor Polidori" (1991), "Eos' Gelüst" (1995), "Literarische Spaziergänge im Internet" (1996), "Königskinder. Eine wahre Liebe" (1996, 2004), "Mein elektronischer Schreibtisch" (1999), "Unerhörte Rettung. Die Suche nach Edwin Geist" (2004). Im Jahre 2000 erschien, von ihm zusammen mit Margarete Holzman herausgegeben: "Dies Kind soll leben. Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944". - Reinhard Kaiser wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (1997), dem Geschwister-Scholl-Preis für die Herausgabe der Aufzeichnungen von Helene Holzman (2000) und zuletzt mit dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2003).