"Vertraue mir!"

Von der Erotik des Hochstapelns

30:13 Minuten
In der Illustration zum Märchen "Der Wolf und die sieben Geißlein" klopft der Wolf in Menschenkleidung an die Tür der Geißen.
Der Wolf in Grimms Märchen über die sieben jungen Geißlein ist ein Hochstapler der grausamen Art: ein als Mutter verkleideter Mörder frisst die Kinder. © Picture Alliance / akg-images
Von Dagmar Just · 09.02.2022
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Ob der Wolf aus Grimms Märchen, Karl May oder Claas Relotius – sie alle sind Hochstapler, spielen das fremde Leben so perfekt, als sei es ihr eigenes. Doch auch sie können nur verführen, wo jemand verführt werden will.
Der erste Hochstapler, dem die meisten von uns in unseren Breiten begegnen, ist – ein Killer! Der Wolf in Grimms Märchen über die sieben jungen Geißlein. Der Horror im Kinderzimmer: Ein als Mutter verkleideter Mörder frisst die Kinder. Eine Ausnahme!
Der Durchschnittshochstapler ist ein raffinierter Gauner und sonst nichts, oder wie Wikipedia sagt: "Eine Person, die mehr scheinen will, als sie ist, indem sie einen höheren gesellschaftlichen Rang, eine bessere berufliche Position oder ein größeres Vermögen vortäuscht, häufig in der Absicht des Betrugs."
Der Typ ist so alt wie der Wald. Aber 2500 Jahre lang gibt es kein eignes Wort dafür. Da gilt nur wie im Alten Rom: mundus vult decipi, ergo decipiatur. Die Welt will betrogen sein, also betrüge sie. Plutarch. Oder: volenti non fit iniuria! Wer aus freien Stücken einwilligt, dem geschieht kein Unrecht! Ulpian.

Ein Wiener Beamter erfindet das Wort Hochstapler

Erst 1851 stuft ein Wiener Beamter den Pseudoarzt, Pseudoadligen, Pseudobanker als gefährlich ein und kreiert das Wort Hochstapler dafür. Eine Kombination aus "hoch" plus "stapeln", was im Gaunerslang für "betteln" steht und seltsam in die Irre führt. Denn betteln Bettler nicht um Almosen? Hochstapler aber zocken um Macht und Millionen.
Franziska Schanzkowa, Friedrich Wilhelm Voigt, Karl May, Harry Domela, George Manolescu, Victor Lustig, Lina Mack, Alexandre Stavisky, Adele Spitzeder –was haben alle diese Leute gemeinsam? Sind alles Hochstapler, alle berühmt, große Nummern in der Hochstapler-Community, alle Zeitgenossen: spätes 19. bis Mitte 20. Jahrhundert, die goldene Hochstapler-Ära.
Porträt von Karl May, der in Trapper-Kleidung als Old Shatterhand posiert.
Bekam als Schriftsteller noch mal die Kurve: Karl May verkleidet als Old Shatterhand.© Imago / teutopress
Fast alle kommen von ganz unten. Kellerkinder, auf die hätte keiner gesetzt. Sie schaffen es trotzdem. Und zwar nicht mit der mühsamen Rockefeller-Tour, sondern mit einem Super-Coup – nonstop in die High Society. Auf die Sonnenseite des Lebens. Performen das Leben eines anderen, Schönen und Reichen, und ändern dafür alles: Namen, Kleidung, Sprache, Vergangenheit, Auftreten.

Das Feature "'Vertrau mir!' – Von der Erotik des Hochstapelns" wurde erstmals am 18. September 2019 gesendet.

Sie spielen das fremde Leben so perfekt, als sei es ihr eignes: der Schuhmachersohn als Hauptmann von Köpenick, die Fabrikarbeiterin als jüngste Zarentochter, der geschasste Hilfslehrer als Plantagenerbe, Augenarzt, Kunsthändler, ein Kindersoldat als Prinz Wilhelm von Preußen, die verkrachte Schauspielerin als charismatische Bankenchefin und ein Bummelstudent als Eiffelturm-Eigentümer.
Eine Form von Krankheit, sagen die Ärzte: Dissoziative Persönlichkeitsstörung. Der Patient spaltet sich in seinem Inneren in mehrere Personen auf, von denen die eine oder andere abwechselnd die Kontrolle über sein Verhalten übernimmt. Allerdings ist in der Psychiatrie umstritten, ob so eine Krankheit überhaupt existiert.

Fiktion und Wirklichkeit faszinierend verschmolzen

Die andere Diagnose: Pseudologia phantastica. 1891 erstmals durch den Schweizer Psychiater Anton Delbrück in seiner Studie über "Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler" definiert als "dramatische Selbstdarstellung mittels phantastischer Lügengeschichten, in denen Fiktion und Wirklichkeit faszinierend verschmolzen sind, ohne dass sie bizarr oder wahnhaft wären wie bei den Schizophrenen oder Halluzinierenden, sondern glaubwürdig und dank der großen schauspielerischen Begabung aller Pseudologen oft sogar extrem suggestiv."
Schauspielkunst, Timing, Fantasie, Empathie, Psychologie, Kommunikationsintelligenz – und Mut zum Risiko! Der Zürcher Bezirksstaatsanwalt und Professor für Strafrecht Georg von Cleric spricht sogar von Risikoblindheit und deklariert sie zum Erfolgsgeheimnis der gesamten Spezies: "Hemmungen und Bedenken entfallen, weil Hochstapler die Gefahren des eignen Handelns ausblenden und dementsprechend zielsicher, unbefangen und mitreißend agieren können. Ja, oft agieren sie dabei so halsbrecherisch, als legten sie es darauf an, enttarnt zu werden."
Oder wie der erste Karl-May-Biograf und Dresdner Kriminalpsychologe Erich Wulffen so schön schrieb: "Der Hochstapler ist ein durch negative Umstände verhinderter Dichter, wie der Dichter ein durch sein Form- und Fiktionalitätsbewusstsein gebremster Hochstapler ist." So wechselt Karl May mit Mitte 30 plötzlich das Register und lebt von da an seine Räuberpistolen nur noch auf dem Papier aus statt in der Wirklichkeit.

Role Model für den attraktiven jungen Mann

Und dann noch: der Heiratsschwindler. Laut Lexikon "ein Betrüger, der seinen Opfern mit oft falscher Identität eine gemeinsame Zukunft vorgaukelt, um finanzielle Zuwendungen zu erschleichen".
Doch die Zeiten für klassische Hochstapler, die sich für kurze Zeit aus der Gosse auf die Throne selbstkreierter Königreiche gegen alle Gesetze der Schwerkraft manövrieren, sind vorbei. In den 20er-Jahren erobert die Soft-Version dieser "äußerst unwahrscheinlichen und seltenen Ereignisse" die Welt: der smarte Trickbetrüger, hochstapelnde Firmenchef, heiratsschwindelnde Kleinbürger. Heute eine Spezies, die sich inflationär vermehrt, betritt sie damals im Theater und im Kino die große Bühne und wird als eine Art Role Model für den attraktiven jungen Mann popularisiert und propagiert.
Und in der Gegenwart? Helg Sgarbi, Schweizer Gigolo, hat von 2007 bis 2009 die BMW-Erbin Susanne Klatten um sieben Millionen Euro erleichtert. François-Marie Banier, französischer Jetset-Fotograf, knöpfte der L’Oréal-Erbin Liliane Bettencourt fast zeitgleich eine Milliarde Euro in Form von Schecks, Gemälden, Lebensversicherungen ab.
Nicht zu vergessen: all die kleinen Fische. Laut Statistik sollen allein in Deutschland und Österreich jedes Jahr 150.000 Frauen auf sogenannte Romance Scammer hereinfallen – digitale Beziehungsschwindler, die ihre Netze unter falschen Profilen im Internet auswerfen, um ihren Opfern Verliebtheit vorzuspielen und sie dann finanziell auszuplündern.
Ganz zu schweigen von den Partnerbörsen, in denen sich Myriaden von "attraktiven, liebenswerten und extrem erfolgreichen Zeitgenossen" tummeln. Bluff und Fake auf dem Heiratsmarkt. Hochstapler und Hochstaplerinnen, wohin das Auge sieht, überall, in allen Preisklassen, Disziplinen und Lebensbereichen.

Hochstapeln scheint ein Erfolgsmodell zu sein

Vertrauen Sie noch? Wem? Warum? Im Zeiten von Claas Relotius, Ibrahim Böhme, Tom Kummer, Karl Theodor zu Guttenberg, Annette Schavan, Milli Vanilli oder Beppe Grillo: "Die Morandi-Brücke ist nicht einsturzgefährdet und steht noch 50 Jahre."
Hochstapeln scheint ein Erfolgsmodell zu sein. Das Wort Faken für fälschen, schwindeln, bluffen von englisch to fake war schon vier Jahre vor Donald Trumps Amtsantritt nominiert als Anglizismus des Jahres.
Mittlerweile soll nach Spezialistenschätzungen die Hälfte aller Online-Bewerbungen schon gefakt sein. Hier. Während in China, in der zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt, Hochstapeln angeblich schon als als State of the Art gilt. Falsche Manager, Wissenschaftler, Ärzte, Piloten, Ingenieure sollen dort an der Tagesordnung sein: "Bei vielen Bewerbern wissen wir, dass ihre Referenzen von vorn bis hinten erfunden sind", zitiert die "Neue Zürcher Zeitung" die Personalchefin eines deutschen Unternehmens vor Ort. "Am Ende bleibt uns häufig gar nichts andres übrig als einen Schaumschläger einzustellen, weil alle anderen genauso sind."
Hochstapeln boomt, weil es sich lohnt. Und wie die Faust aufs Auge zu Fake-News und Fake-Accounts, Spin-Doctors, Photoshop, Selbstoptimierung oder Selfengineering passt. Als Antwort. Und auch als Kick. Als Testballon. Als Mutprobe und Abenteuer für Jedermann. Und jede Frau!
Als Trampolin zu schnellem Glanz und Glamour im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit - auf dem Arbeitsmarkt genau wie auf dem Publicity-Markt der Eitelkeit. Und wenn es schief geht: So what! Heut heißt es nicht mehr 'Kopf ab!' und 'Schluss mit lustig!', sondern: Luft holen, Durchatmen, Neusortieren im Knast, und dann 'Auf zu neuen Ufern!'
Anna Sorokin sitzt in Handschellen im Gerichtssaal, hinter ihr zwei Polizisten.
Anna Sorokin, als Betrügerin und Diebin verhaftet, verkauft noch während des Prozesses ihre Geschichte an den Filmriesen Netflix.© Picture Alliance / New York Post via AP / Steven Hirsch
Beispielsweise Anna Sorokin: In Russland geborene Deutsche, 28 Jahre jung, die es schafft, sich als angebliche Millionärstochter in die New Yorker Society zu manövrieren. Wird im Herbst 2017 dort als Betrügerin und Diebin verhaftet und im Mai 2019 für schuldig erklärt. Der Prozess läuft noch, da verkauft sie ihre Geschichte schon an den Filmriesen Netflix. Dann ist sie kaum verurteilt und tritt ihre Haft an, da verkündet sie, dass sie jetzt selbst ihre Memoiren schreibe. Während sie den Film-Produzenten eine Schauspielerin für ihren Part im Film vorschlägt.
Die Öffentlichkeit liebt solche Geschichten. Vorausgesetzt, dass sie nicht selbst das Opfer ist. Und was die Öffentlichkeit liebt, lieben auch die Medien: "Mit fremden Federn. Kleine Geschichte der Hochstapelei", 2018. "Die Einsamkeit des Hochstaplers", 2016. "Eine brillante Masche. Die fast wahre Geschichte eines Lügners", 2014. "Hochstapler, wie sie uns täuschen", 2012. "Professionelle Lügner und Hochstapler", Spiegel-TV 2017. "Die großen Hochstapler", ZDF-History.
Eine kleine Auswahl der Legionen von Filmen, Dokumentationen, Biografien, Reader, Sachbücher, Features, Hörspielen und Essays über Hochstapler, zu denen ständig neue hinzukommen, wie bei den Hochstaplern selbst.

Das Schweigen der Opfer

Vielleicht ist die letzte noch vorhandene Gemeinsamkeit – abgesehen vom Begriff Hochstapeln – das Schweigen der Opfer. Aus Scham? Scham wofür? Weil sie auf diesen Nichtsnutz hereingefallen sind? Seinen Offerten geglaubt, den Köder an seiner Angel geschluckt haben? Verführer können nur verführen, wo jemand verführt werden will.
Um auf das Schweigen der Opfer zurückzukommen: Es kann auch ihr Glück sein. Wie beim jüngsten Zicklein im Märchen, das in den Uhrkasten springt und dort dem Massaker des Wolfs entrinnt. Als die Mutter heimkehrt, hilft sein Bericht, die Rettungsaktion für die Geschwister und die Rache am Übeltäter in Gang zu bringen.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung. Lesen Sie hier das vollständige Manuskript im pdf-Format.
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