Verteidigung des Individuums und seiner Wahlfreiheit

Der Titel des neuen Buches von Amartya Sen verkürzt den Essay des Nobelpreisträgers für Ökonomie zu einer Antwort auf Samuel Huntingtons schon etwas betagte und vielfach kritisierte These von einem globalen Kulturkrieg.
Doch in "Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" will der moralisch argumentierende und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eintretende Theoretiker mehr, weshalb er sich auch – viel Feind, viel Ehr – die Chauvinisten des Westens, die Fundamentalisten des Ostens, außerdem Marktliberale, Kommunitaristen, Globalisierungsgegner und Multikulti-Anhänger auf der ganzen Welt vornimmt.

Sie alle vollzögen nämlich die Verkürzung des Menschen auf nur eine Identität, in der Regel die kulturelle, zunehmend die religiöse. Dieser Reduktionismus erkläre nichts, er führe vielmehr die Probleme erst herbei: Ressentiments und Gewaltbereitschaft.

Dabei besitze jeder Mensch eine Vielzahl von Identitäten.

""Was mich betrifft"," schreibt Amartya Sen, ""so kann ich mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ‚Leben vor der Geburt’) angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl","

heißt es, die sich noch durch weitere, umständebedingte Kategorien ergänzen ließe.

Sen erinnert also zunächst an Binsenweisheiten der Soziologie über die Mannigfaltigkeit von Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten, die einander durchaus widersprechen können und vom Kontext abhängen. Den Kollegen von der ökonomischen Fakultät hat er bereits in früheren Arbeiten Simplizität vorgeworfen, weil sie den Menschen als "rationalen Akteur" kennen, der sich nur von seinem Vorteil leiten lasse.

Dieser Akteur sei ein "rationaler Narr", antwortet Sen, schließlich folge jeder Mensch verschiedenen Loyalitäten, Moralvorstellungen und Konventionen. Manchmal müsse er auch gegen den eigenen Vorteil oder den seiner Gruppe handeln, um nicht der Vetternwirtschaft beschuldigt zu werden: Selbstverleugnung gehöre zur allgemeinen Moral.

Huntington wiederum wirft Sen grobe deskriptive Fehler vor. Indien etwa, der Staat mit der drittgrößten Zahl von Muslimen weltweit, zähle dieser zum hinduistischen Kulturkreis. Und Globalisierungskritiker weist Sen darauf hin, dass Europa vor 1000 Jahren gut daran getan hätte, sich der Globalisierung von Erfindungen aus China, Persien und dem arabischen Raum zu öffnen – warum also sollte man sich heute der von entwickelten Ländern ausgehenden Globalisierung verschließen? Diese sei nicht "westlich", weshalb gegen sie auch keine "asiatischen Werte" oder "islamischen Ideale" hoch gehalten werden müssten. Universalien wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit bei der gerechten Verteilung des Gewinns würden vollauf genügen.

Der in Indien geborene, in England und den USA lehrende Sen argumentiert auf vielen Ebenen, aber stets zurückhaltend, unaufgeregt und zuweilen mit leichter Selbstironie. Immer geht es ihm um die Verteidigung des Individuums und seiner Wahlfreiheit.

Die Identität werde gewählt und auch gewechselt. Man entdecke sie nicht, wie radikale Kommunitaristen meinten, und sei dann ein für allemal mit ihr versehen. Daher plädiert Sen gegen Konfessionsschulen in Großbritannien und für gemischte Bildungseinrichtungen ebenso wie gegen einen Multikulturalismus, der faktisch ein "pluraler Monokulturalismus" sei, in dem Traditionen und Stile wie "Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifahren".

Die Religion schließlich sei auch nur ein Reduktionismus. Die westlichen Staaten sollten es unterlassen, den "wahren", friedliebenden Muslim zu definieren. Sie sollten sich auch nicht an Religionsführer wenden, um die gesellschaftliche Partizipation zu organisieren. Das werte die Führer auf, warnt Sen, und fragt eindrücklich, warum nicht die Zivilgesellschaft der Bürger gestärkt werde. – Tatsächlich zeigt sich an dieser Stelle, wie stark Theoreme wie die von Huntington bereits das politische Alltagshandeln prägen. Die Ausrichtung westlicher Politik auf Religionsführer ist nicht nur kontraproduktiv. Sen verschweigt höflich, dass sie auch autoritäre Züge derer zeigt, die die Demokratie für sich in Anspruch nehmen.

Rezensiert von Jörg Plath


Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Aus dem Englischen von Friedrich Griese.
Verlag C. H. Beck, München 2007, 208 Seiten, 19,90 Euro