Versuchskaninchen aus Langeweile
Billy Schine ist ein amerikanischer „Mann ohne Eigenschaften“, dem sein alltägliches Dahinleben nicht viel bedeutet. Aus Geldsorgen stellt er sich freiwillig für einen Medikamententest für Psychopharmaka zur Verfügung. Im Mikrokosmos der Klinik inszeniert der amerikanische Autor David Gilbert einen aberwitzigen, negativen Gesellschaftsroman.
Was ist schon normal. Muss man beispielsweise nicht schon eine ziemliche Macke haben, um sich freiwillig als Versuchskaninchen für einen Medikamententest zur Verfügung zu stellen, bei dem ein Psychopharmakon zur Behandlung von Schizophrenie getestet werden soll?
Die Probanden heißen in der Klinik „Die Normalen“ – so der Titel des Debütromans von David Gilbert. Im Lauf der 14-tägigen Testreihe zeigen sie allerlei Verrücktheiten. Einer wäscht sich nicht, putzt sich nicht die Zähne, entwickelt aber einen religiös grundierten Verfolgungswahn.
Ein anderer, Schauspieler von Beruf, rasiert sich sämtliche Körperhaare ab. Ein dritter führt seinen vielfach vernarbten Körper vor. Er sammelt Schusswunden wie andere Leute Tattoos. Eine Frau hat sich vorgenommen, alle Männer in ihr Bett zu locken, weil sie in möglichst vielen Erinnerungen vorkommen will.
Inkontinenz, Zittern und Sabbern sind verbreitete Symptome. Am Ende aber stellt sich heraus, dass die Probanden Placebos bekamen, ihre Neurosen also ganz alleine entwickelt haben. Ist das normal?
Nur einer scheint von allem, was um ihn herum vorgeht, völlig unbeeindruckt. Das ist Billy Schine, ein amerikanischer Mann ohne Eigenschaften. Er, Gilberts Hauptfigur, vertritt die Ansicht, dass es keinen „Sinn hat, etwas anderes als gar nichts zu unternehmen.“ Wenn Eigenschaftslosigkeit eine Form von Normalität ist, dann müsste er der normalste von allen sein.
Billy hat sich für die medizinischen Versuche beworben, weil ihm das alltägliche Dahinleben nicht viel bedeutet. Seine New Yorker Wohnung verlässt er selten. Er hat ein Studium hinter sich, lebt mit seiner Freundin zusammen, um mit ihr programmgemäß Körpersäfte auszutauschen.
Er ist in Schwierigkeiten, weil er seine Schulden nicht zurückzahlen kann und von einem dubiosen Inkassounternehmen bedroht wird. Das Abtauchen im ländlichen „Animal Human Research Center“ erscheint da als willkommener Urlaub, bei dem man gut versorgt wird und nichts zu tun hat, als sich täglich Blut abzapfen zu lassen.
Im Mikrokosmos der Klinik inszeniert Gilbert einen aberwitzigen, negativen Gesellschaftsroman. Bindungen kommen darin nur auf Zeit und im Rahmen einer Notgemeinschaft vor. So schmerzfrei Billy seine Freundin verlässt, so bedrohlich rücken ihm die Telefonate mit dem Vater zu Leibe. Der erzählt ihm von der schweren Alzheimer-Erkrankung der Mutter, die er in ein Pflegeheim einliefern musste. Billys Gleichgültigkeit versucht er mit einem ungeheuren Ansinnen zu erschüttern: Der Sohn soll ihm bei einem Doppelselbstmord assistieren.
Man kann Gilberts Roman als Gegenentwurf zu den modernen Familien- und Mittelstandsromanen aus den USA lesen, Jonathan Franzens „Korrekturen“ etwa. Sichtbar steht er zudem in der Tradition von Ken Keseys Irrenhausroman „Einer flog über das Kuckucksnest“.
Aber bei Gilbert ist noch nicht einmal das Verrücktsein authentisch. Er zeichnet das Porträt einer zynischen Gesellschaft, die sich im Schund und in der eigenen Verkommenheit eingerichtet hat. Seitenlang lässt er Billy durchs TV-Programm zappen, das gewissermaßen den Realitätshintergrund darstellt.
Im Mittelpunkt dieser TV-Orgien steht die Geschichte eines kranken Jungen, dessen Gehirntumor auf dem Röntgenbild angeblich dem Jesus-Bild auf dem Turiner Grabtuch ähnelt. Er wird deshalb in allen Sendern zu einem Heiligen aufgebaut, einem todkranken Star, während seine Familie versucht, ein bisschen Ruhm und Geld aus seinem Sterben herauszupressen.
Die öffentliche Sturzflut von Kommerz, Amoral und Verlogenheit ist die eigentliche Bedrohung für den vielleicht doch eher sensiblen Helden in seinem Versuchsasyl. Normal ist die Normalität draußen jedenfalls nicht. Vielleicht liegt es daran, dass Billy schließlich ohne zu zögern in ein gefährliches Experiment einwilligt, bei dem er sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. Das ist die äußerste Grenze, bis zu der er seine Gleichgültigkeit treiben kann. Was ist schon das Leben. „Das einzig Einzigartige, das uns geblieben ist, ist unsere DNA“, sagt Billy. Aber es lohnt nicht, so einen Rummel darum zu machen.
David Gilbert, 1967 in Paris geboren und in New York aufgewachsen, hat bisher Kurzgeschichten – unter anderem im „New Yorker“ – veröffentlicht und Drehbücher geschrieben. Die Fähigkeiten, die er dabei erworben hat, kommen auch in seinem Roman zur Geltung. Er schlägt ein hohes erzählerisches Tempo an, schreibt harte, witzige Dialoge, und vermag es spannend zu erzählen, obwohl seine Figuren doch vor allem mit der eigenen Langeweile klarkommen müssen.
Vor allem aber hat er mit der Figur des Billy Schine, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen könnte, einen zeitgemäßen, schlagfertigen und irgendwie liebenswürdigen Helden geschaffen.
David Gilbert: Die Normalen
Roman. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte.
Eichborn, Frankfurt/Main 2005,
400 Seiten, 22,90 Euro
Die Probanden heißen in der Klinik „Die Normalen“ – so der Titel des Debütromans von David Gilbert. Im Lauf der 14-tägigen Testreihe zeigen sie allerlei Verrücktheiten. Einer wäscht sich nicht, putzt sich nicht die Zähne, entwickelt aber einen religiös grundierten Verfolgungswahn.
Ein anderer, Schauspieler von Beruf, rasiert sich sämtliche Körperhaare ab. Ein dritter führt seinen vielfach vernarbten Körper vor. Er sammelt Schusswunden wie andere Leute Tattoos. Eine Frau hat sich vorgenommen, alle Männer in ihr Bett zu locken, weil sie in möglichst vielen Erinnerungen vorkommen will.
Inkontinenz, Zittern und Sabbern sind verbreitete Symptome. Am Ende aber stellt sich heraus, dass die Probanden Placebos bekamen, ihre Neurosen also ganz alleine entwickelt haben. Ist das normal?
Nur einer scheint von allem, was um ihn herum vorgeht, völlig unbeeindruckt. Das ist Billy Schine, ein amerikanischer Mann ohne Eigenschaften. Er, Gilberts Hauptfigur, vertritt die Ansicht, dass es keinen „Sinn hat, etwas anderes als gar nichts zu unternehmen.“ Wenn Eigenschaftslosigkeit eine Form von Normalität ist, dann müsste er der normalste von allen sein.
Billy hat sich für die medizinischen Versuche beworben, weil ihm das alltägliche Dahinleben nicht viel bedeutet. Seine New Yorker Wohnung verlässt er selten. Er hat ein Studium hinter sich, lebt mit seiner Freundin zusammen, um mit ihr programmgemäß Körpersäfte auszutauschen.
Er ist in Schwierigkeiten, weil er seine Schulden nicht zurückzahlen kann und von einem dubiosen Inkassounternehmen bedroht wird. Das Abtauchen im ländlichen „Animal Human Research Center“ erscheint da als willkommener Urlaub, bei dem man gut versorgt wird und nichts zu tun hat, als sich täglich Blut abzapfen zu lassen.
Im Mikrokosmos der Klinik inszeniert Gilbert einen aberwitzigen, negativen Gesellschaftsroman. Bindungen kommen darin nur auf Zeit und im Rahmen einer Notgemeinschaft vor. So schmerzfrei Billy seine Freundin verlässt, so bedrohlich rücken ihm die Telefonate mit dem Vater zu Leibe. Der erzählt ihm von der schweren Alzheimer-Erkrankung der Mutter, die er in ein Pflegeheim einliefern musste. Billys Gleichgültigkeit versucht er mit einem ungeheuren Ansinnen zu erschüttern: Der Sohn soll ihm bei einem Doppelselbstmord assistieren.
Man kann Gilberts Roman als Gegenentwurf zu den modernen Familien- und Mittelstandsromanen aus den USA lesen, Jonathan Franzens „Korrekturen“ etwa. Sichtbar steht er zudem in der Tradition von Ken Keseys Irrenhausroman „Einer flog über das Kuckucksnest“.
Aber bei Gilbert ist noch nicht einmal das Verrücktsein authentisch. Er zeichnet das Porträt einer zynischen Gesellschaft, die sich im Schund und in der eigenen Verkommenheit eingerichtet hat. Seitenlang lässt er Billy durchs TV-Programm zappen, das gewissermaßen den Realitätshintergrund darstellt.
Im Mittelpunkt dieser TV-Orgien steht die Geschichte eines kranken Jungen, dessen Gehirntumor auf dem Röntgenbild angeblich dem Jesus-Bild auf dem Turiner Grabtuch ähnelt. Er wird deshalb in allen Sendern zu einem Heiligen aufgebaut, einem todkranken Star, während seine Familie versucht, ein bisschen Ruhm und Geld aus seinem Sterben herauszupressen.
Die öffentliche Sturzflut von Kommerz, Amoral und Verlogenheit ist die eigentliche Bedrohung für den vielleicht doch eher sensiblen Helden in seinem Versuchsasyl. Normal ist die Normalität draußen jedenfalls nicht. Vielleicht liegt es daran, dass Billy schließlich ohne zu zögern in ein gefährliches Experiment einwilligt, bei dem er sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. Das ist die äußerste Grenze, bis zu der er seine Gleichgültigkeit treiben kann. Was ist schon das Leben. „Das einzig Einzigartige, das uns geblieben ist, ist unsere DNA“, sagt Billy. Aber es lohnt nicht, so einen Rummel darum zu machen.
David Gilbert, 1967 in Paris geboren und in New York aufgewachsen, hat bisher Kurzgeschichten – unter anderem im „New Yorker“ – veröffentlicht und Drehbücher geschrieben. Die Fähigkeiten, die er dabei erworben hat, kommen auch in seinem Roman zur Geltung. Er schlägt ein hohes erzählerisches Tempo an, schreibt harte, witzige Dialoge, und vermag es spannend zu erzählen, obwohl seine Figuren doch vor allem mit der eigenen Langeweile klarkommen müssen.
Vor allem aber hat er mit der Figur des Billy Schine, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen könnte, einen zeitgemäßen, schlagfertigen und irgendwie liebenswürdigen Helden geschaffen.
David Gilbert: Die Normalen
Roman. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte.
Eichborn, Frankfurt/Main 2005,
400 Seiten, 22,90 Euro