Verstrickung östlicher und westlicher Mythen

14.10.2010
Neues und Dickes vom Meister der Verrätselung: Haruki Murakamis über tausendseitiger Fortsetzungsroman "1Q84" führt in eine fantastische Parallelrealität und changiert zwischen monumentalem Suchtmittel und seitenstarkem Humbug.
Einmal wieder spielt der erfolgreichste japanische Autor auf seiner bereits geschmeidig gemachten Klaviatur: dem Verweben von Erzählsträngen und dem Verstricken westlicher und östlicher Mythen der (Pop)kultur. Verweise auf Jazzmusik, Anton Tschechow und Sean Connery, dazu eine Menge Tofu und das Nachtleben in Tokyo, in dem einsame Menschen aus psychohygienischen Gründen Sex haben – dem Murakami-Aficionado wird diese Welt bekannt vorkommen. Diesmal fällt sie ins Orwell-Jahr 1984, das wiederum – auch das ein typischer Murakami-Anschlag auf den Rationalismus – zerfällt in zwei Parallelwelten.

Auf der einen Seite steht der Mathematikdozent und verhinderte Schriftsteller Tengo, der von einem Verlagsredakteur den Auftrag bekommt, das Manuskript einer mysteriösen 17-jährigen Schönheit zu bearbeiten, um es für einen Literaturpreis einreichen zu können. Dieser Roman im Roman mit dem Titel "Die Puppe aus Luft" spielt eine fatale Rolle – denn die Autorin plaudert darin die Existenz einer magischen Parallelgesellschaft namens "Little People" aus. Diese kleinen Brüder bedienen sich einer auf biologisch-dynamische Nahrungsmittel spezialisierten Sekte, um einen geheimnisvollen Zweck zu verfolgen, den man nach der Lektüre dieser ersten beiden Bände einer Trilogie lediglich ahnt und mit dem Begriff "Weltherrschaft" umschreiben könnte.

Der zweite Erzählstrang hat nicht weniger fantastische Elemente. Die herbe Einzelgängerin Aomame mordet im Auftrag einer eleganten alten Dame Männer, die ihre Frauen misshandelt haben. Nachdem sie eine geheimnisvolle Autobahntreppe hinabgestiegen ist, nimmt sie kleine Verrückungen in der Realität wahr. Und tauft das Jahr 1984, in dem sie sich befindet um in 1Q84 – ein Buchstabenspiel, das sich aus der lautlichen Ähnlichkeit der japanischen 9 mit dem englischen Q ergibt. Eine kleine aber wirkungsmächtige Ersetzung, die zwar ein zweites mögliches Jahr '84 installiert, nicht aber die beste aller Welten schafft.

Wie so oft in Murakamis Romanen haben wir es auf allen Ebenen mit dem Prinzip der Bipolarität zu tun. Und wieder sind die Protagonisten Menschen um die 30, deren Schicksal sich in der Kindheit verwoben hat, und die sich plötzlich der Unbedingtheit bewusst werden, wieder zueinanderfinden zu müssen – übrigens in einer Zeit ohne Internet und Suchmaschine. Im Wechsel berichten die Kapitel entweder von Aomames oder Tengos Erlebnissen, sehr übersichtlich, sehr simpel, sehr lesegerecht zum Verschlingen portioniert. Einfache Literatur in punkto Einverleibung – inklusive leider auch sprachlicher Schludrigkeiten und inhaltlicher Redundanzen, die den Eindruck wecken, hier wollte der Autor vorrangig Meter machen. Wie schade! Denn dass brillante und suggestive Literatur nicht seitenstark sein muss, beweist Murakami selbst in vielen seiner Erzählungen, in denen jeder Satz sitzt und deren philosophischer Nachhall bis in die von ihr hervorgerufenen Träume dringt.

Auch wenn gerade die Sexszenen des um seine erotische Darstellungskraft immer wieder gerühmten Autors in diesem Buch unfreiwillig komisch daher kommen: "1Q84" hat zweifelsohne Verführungskraft. Wenn es etwa um Gefühle geht, kennt Murakami keine doppelten Böden. Anrührend ironiefrei werden die Einsamkeiten im urbanen Lebensraum ausgelotet, wird die Liebe als Rettung und Erlösung zelebriert. Und so idealistisch und vordergründig mit Gut und Böse inhaltlich hantiert wird, so leise und wirkungsvoll klappen erzähltechnisch die Falltüren in die andere, die mysteriöse Parallelwelt auf. Der Meister der Verrätselung hat ein neues Stück seiner gut gemachten Sudoku-Literatur vorgelegt, Geschmackssache wie das populäre Zahlenrätsel: Was dem einen ein fantastisches Suchtmittel wird dem anderen zeitraubender Humbug sein.

Besprochen von Katrin Schumacher

Haruki Murakami: 1Q84
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont, Köln 2010
1024 Seiten, 32,00 Euro
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