Verspielter Roman im Roman

04.07.2013
Le Telliers Erzähler soll eigentlich als Journalist über den Prozess gegen einen Serienmörder berichten. Doch er interessiert sich mehr für sein Liebesglück und das des Fotografen António, der über denselben Fall berichten soll - und der dieselbe Frau begehrt hat.
Der französische Autor Hervé Le Tellier schickt seine Figuren gern in Laborsituationen und schaut, wie es ihnen darin ergeht. In "Neun Tage in Lissabon" haben zwei Männer einen gemeinsamen Auftrag: Sie sollen im Jahr 1985 aus Lissabon über den Prozess gegen einen Serienmörder berichten, der eine als Journalist, der andere als Fotograf.

Zugleich sind sie aber vor derselben Frau, Irene, aus Paris geflohen: Der eine, weil er bei ihr nicht landen konnte, der andere, weil sie ihm zu nah kam. Diese Pikanterie stellt sich allerdings erst während der gemeinsamen Arbeit heraus, oder vielmehr: Der verschmähte Vincent findet es heraus und entwirft "mit dem jähzornigen Gespür der Verlierer" einen hinterhältigen Plan - sein Partner António hat ihm von einer Jugendliebe erzählt, Pata, die er nicht wiedergesehen hat. Vincent nimmt sich vor, António und Pata wieder zusammenzubringen. Und Irene will er nach Lissabon locken, "um ihren Ruin zu betrachten".

Irene kommt dann von ganz allein, aber Vincents Plan geht gründlich in die Hose, woran Hervé Le Tellier einen diebischen Spaß hat. Vincent ist nämlich auch der Autor dieser Geschichte, der ein Vierteljahrhundert später seine Erinnerungen ins Reine schreibt - Notizen gemacht hat er schon damals, um nicht zu vergessen, "um am Leben zu bleiben".

Und dem literarischen Spieler Le Tellier bereitet es sichtlich Vergnügen, dass dem Erzähler, der nichts weniger als "das Schicksal korrigieren" will, die Figuren entgleiten. Die eigentlich banale Geschichte über die Rachepläne eines verschmähten Mannes (so wie Le Tellier ihn schildert, übrigens zu Recht verschmäht: Für Vincent verwandeln sich alle Frauen sofort in mythische Figuren - auf Erden und deshalb hat er es schwer mit ihnen) wird so zu einem raffinierten Nachdenken über Fiktion und Wirklichkeit, zu einem verspielten Roman im Roman. So leichtfüßig "Neun Tage in Lissabon" daherkommt, hat er doch einen komplexen literaturtheoretischen Subtext im Gepäck - der ihn aber nicht in die Knie zwingt.

Hervé Le Tellier gehört der sprachexperimentellen Autorengruppe OuLiPo an. "Neun Tage in Lissabon" ist nicht so verspielt wie Le Telliers erster ins Deutsche übersetzte Roman "Kein Wort mehr über Liebe". Aber auch im aktuellen Buch zeigt er wieder sein Gespür für Atmosphäre, seine stilistische Eleganz, seinen hintersinnigen Humor. Der Roman ist voll von literarischen Zitaten, intertextuellen Bezügen: Nebenbei schreibt Vincent an einer fiktiven Biographie, die Eifersucht und Mittelmaß zum Thema hat - eine Spiegel-Geschichte. Man kann "Neun Tage in Lissabon" in einem Rutsch weglesen, aber die Lektüre wirkt lange nach: Es dauert, bis sich die Tiefenschichten nach und nach freilegen.

Und was hat das alles mit dem Serienmörder zu tun? Eigentlich nichts, außer dass er in seinem schweigsamen Einzelgängertum dem Erzähler gar nicht so unähnlich ist und dadurch den Roman mit ein bisschen Grusel anreichert.

Besprochen von Dina Netz

Hervé Le Tellier: "Neun Tage in Lissabon"
Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013
278 Seiten, 14,90 Euro