Versöhnung mit der Geschichte

Rezensiert von Rolf Schneider |
Das Thema Ostpreußen und die seit 1945 immer wieder erhobenen Besitzansprüche der Vertriebenen sind aus der öffentlichen Debatte nicht verschwunden. Doch die Zeit hitziger Diskussionen ist vorbei, resümiert der Politologe und Historiker Andreas Kossert in seinem Buch "Ostpreußen". Die junge Generation blicke gelassener auf das Land und seine Geschichte.
Als nach dem Dezember 1943 die Krieg führenden Alliierten nachdachten über das Schicksal des besiegten Hitlerdeutschlands, bestand bei ihnen Übereinstimmung, dass die künftige deutsche Ostgrenze an Oder und Neiße verlaufen solle. Die dort lebenden Deutschen hätten aus- und umgesiedelt zu werden, was dann gleichermaßen für die in Böhmen lebenden Deutschen galt.

Von dieser durchweg gewaltsamen Migration waren am Ende um die 15 Millionen Menschen betroffen; die von ihnen geräumten Städte und Dörfer nahmen Slawen ein. Im Fall der Regionen Ost- und Westpreußens, Hinterpommerns und Schlesien handelte es sich um Polen, die ihrerseits aus Landschaften östlich des Flusses Bug kamen. Ihre alte Heimat wurde der damaligen Sowjetunion zugeschlagen und gehört heute zum ukrainischen Staat.

Die endgültige Bestätigung der deutsch-polnischen Grenzziehung - theoretisch hätte sie eine Teilrevision oder die völlige Rücknahme erbringen können - blieb ausdrücklich einem Friedensvertrag vorbehalten. Zu dem ist es niemals gekommen. Statt dessen brach zwischen den eben noch Alliierten ein neuer, ein kalter Krieg aus, an dem das nunmehr geteilte Deutschland mitbeteiligt wurde; die verlorenen deutschen Ostgebiete und das Schicksal der daraus Vertriebenen dienten dabei als ideologische Munition.

Im Lauf der Jahrzehnte geschah dennoch so etwas wie eine pragmatische Sanktion. Es gab befriedende Initiativen der christlichen Kirchen, es gab die Ostpolitik Willy Brandts. Am Ende haben bilaterale Abkommen und völkerrechtliche Vereinbarungen die Sache unumkehrbar gemacht. Die Ereignisse von 1989/90 und die Erweiterungen der Europäischen Union bewirkten ein Übriges. Vor dem Hintergrund dessen, was einst an potentiellen Konflikten herrschte, nimmt sich der Zank um den künftigen Sitz eines Zentrums gegen Vertreibungen einigermaßen marginal und beinahe lächerlich aus.

Die Probleme der Migranten zu lösen, hatte es viele höchst unterschiedliche Aktivitäten gegeben. In der alten Bundesrepublik, wo der größte Teil der Flüchtlinge Aufnahme fand, gründete sich eine eigene politische Partei - der BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten), der freilich bald in der größeren CDU verschwand. Bis heute existiert der Bund der Vertriebenen, als Dachverband der einzelnen Landsmannschaften. Es gab und gibt Treffen, Museen, Kulturpreise, Archive, Ausstellungen und Publikationen, solche der historiographischen und solche der schöngeistigen Art.

Ein bedeutender Teil bundesdeutscher Nachkriegsbelletristik - als Autorennamen seien Günter Grass und Siegfried Lenz genannt - hat sich diesem Thema zugewandt, wobei die beiden erwähnten Autoren stets darauf drangen, das einmal Gegebene, so bitter es sein mochte, als unumkehrbar zu akzeptieren. Der Sachbuchsektor tat sich da schwerer. Ganze Bibliotheken wurden verfasst, um Nostalgien zu pflegen oder lebendig zu halten. Die Geschichtswissenschaft widmete sich eingehenden Untersuchungen, die zehnbändige "Deutsche Geschichte im Osten Europas" des Siedler-Verlags ist dafür das prominenteste Beispiel.

Wenn dieser Tage, übrigens wiederum bei Siedler, ein neues Buch über Ostpreußen erscheint, kann es, was die historischen Fakten anlangt, kaum sehr viel Neues bieten. Das Neue besteht in der Auswahl, der Interpretation, der Gewichtung jener Fakten. Darin ist es bemerkenswert gleich in mehrerer Hinsicht.


"Um Ostpreußen tobt seit 1945 so etwas wie ein Glaubenskrieg. [...] Seitdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, nähern sich die Lager an, weil die jüngsten Entwicklungen und die neuere Forschung dazu führen, dass die extremen Positionen aufgegeben werden. Eine neue Generation blickt unbefangener auf das Land und seine Geschichte [...]."


So der Verfasser Andreas Kossert. Mit seinem Geburtsjahr 1970 gehört er selber zu jener neuen Generation. Er ist Politologe, Historiker und Slawist, derzeit arbeitet er am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Auch damit entfernt er sich weit von jeglicher Unterstellung, ein Revanchist im Sinne der alten westdeutschen Vertriebenentradition zu sein.

Als Polonist kennt er gleichermaßen die pseudohistorischen Begründungen, die Warschau für die Inbesitznahme der Gebiete östlich von Oder und Neiße gerne vortrug. Danach handelte es sich um ursprünglich slawische Territorien, die erst durch die gewaltsame Kolonisierung im Hochmittelalter deutsch wurden. Nun ist es so, dass, im Sinne eines modernen Nationenverständnisses, die niedersächsischen und niederrheinischen Kolonisatoren um 1200 sich so wenig als Deutsche begreifen lassen wie die damals dort beheimateten Westslawen als Polen.

Hinzu kommt, dass die Region zu allen Zeiten, und dies bis heute, eine multiethnische Bevölkerung besaß. Es gab und gibt kleinere Kultur- und Sprachgemeinschaften wie die Kaschuben, und vor allem gab und gibt es eine beträchtliche Anzahl von Litauern. Königsberg ist heute in Verwaltung wie Einwohnermehrheit russisch. Als, durch das Ende des Deutschritterordens, Ostpreußen an die Hohenzollern überging und sich in der Folge das Königreich Preußen bildete, begriff man sich nicht so sehr als autochthon deutsch, sondern als multinational. Sebastian Haffner hat dies gerne hervorgehoben und sah eben darin einen der größten Vorzüge Preußens.

Der Name selbst leitet sich her von einer baltischen Völkerschaft, die früher im Gebiet der Memelmündung siedelte. Anders als die sprachverwandten Letten und Litauer konnte sie ihre Identität nicht bewahren. Die mittelalterliche Ostkolonisation war Teil jener Kreuzzugsbewegung, deren Ziel zunächst die Wiedereroberung des von den Arabern okkupierten Jerusalem war. Doch auch die gleichzeitige Ostkolonisation verstand sich ausdrücklich als Kreuzzug, ebenso wie, etwas später, die christliche Wiedereroberung der iberischen Halbinsel.

Der für Ostpreußen besonders maßgebliche Deutschritterorden war im heiligen Land entstanden; wie die anderen Orden der Templer und der Johanniter diente er zunächst rein karitativen Zwecken, nämlich der Pflege erkrankter christlicher Kreuzfahrer.

Die frühe Geschichte Ostpreußens beansprucht in Kosserts Buch vergleichsweise wenig Raum. Drei Viertel des Textes widmen sich dem Geschehen nach dem Jahr 1800. Damals begann in Europa die Nationenwerdung, immer begleitet von selektiven Rückgriffen auf Kulturgeschichte und Mythos. Das bis dahin multiethnische Preußen wurde Kern- und Hauptland des deutschen Reiches und ein Bannerträger des deutschen Chauvinismus.

Kossert zeichnet dies alles sorgfältig nach. Vielfach ruft er auch ästhetische Zeugnisse ab, und er zeigt, dass gesellschaftlicher Progress und politische Reaktion in Ostpreußen ebenso zu finden waren wie in Deutschland anderswo; das führt hin bis zu der deprimierenden Aufstellung von Nazi-Konzentrationslagern in der Region.

Erstmals in so leidenschaftsloser Form wird auch der Umgang mit den Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten dargetan. Die DDR sprach von Beginn an bewusst immer nur von Umsiedlern und verbot alle Formen der Selbstorganisation. Die Vertriebenenverbände in der Altbundesrepublik haben ohne Zweifel viel geleistet für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration, aber sie machten sich anfechtbar in ihrer politischen Grundhaltung, die jener ihres Führungspersonals entsprach.

"Die Übereinstimmung der landsmannschaftlichen Führung mit den alten Eliten Ostpreußens ist verblüffend. So fanden sich ehemalige deutschnationale und nationalsozialistische Landräte, Kreis- und Ortsbauernführer, höhere Kommunalbeamte, Gutbesitzer und Großlandwirte in ihren Reihen wieder."

Das berührt auch die schöne Literatur. Nicht Arno Surminski oder Marion Gräfin Dönhoff wurden belletristische Leitfiguren der ostpreußischen Landsmannschaft, sondern Agnes Miegel.

"Ihre literarische Bedeutung ist in wesentlichen begrenzt auf einige Balladen, die formgeschichtlich allerdings schon in ihrer Entstehungszeit überholt waren. Dennoch wurde Agnes Miegel im Umfeld Ostpreußens eine Art Ikone und offizielle Stadtschreiberin Königsbergs. [...] Sie verschrieb sich dem deutschtumszentrierten Kurs, stand nach 1933 dem NS-Regime nahe und erhielt 1939 den "Ehrenpreis der Hitlerjugend". 1940 trat sie in die Partei ein. [...] Aus der Mystifizierung der ostpreußischen Tradition in Gedichten wie "Ordensdome" ließ sich nach 1945 zum Trost der Vertriebenen eine verklärende Erinnerungspoesie entwickeln, die wiederum viel Akzeptanz fand."

Dass der bedeutendste Ostpreußenlyriker in der DDR lebte und Johannes Bobrowski hieß, ist angesichts der damaligen politischen Vorgaben von einiger Pikanterie.

Kossert subsumiert seine Kenntnisse und Erkenntnisse in einer Art, dass sie den heutigen Konsens wiedergibt und alternativlos in die Zukunft weist:

"Ostpreußen hat der deutschen und europäischen Kultur viel gegeben, Menschen angeregt und unser Denken beeinflusst, [...] Man muss das Land heute ganz neu in den Blick nehmen, denn es ist anders als viele wahrhaben wollen. Seine wechselvolle Geschichte kündet vor allem von der hoffnungsvoll stimmenden Erfahrung, dass Leben neben- und miteinander möglich ist. [...] Wenn sich Kinder und Enkelkinder auf den Weg machen, die Geburtsorte ihrer Eltern und Großeltern kennen zu lernen, kehren mit diesen Familiengeschichten längst vergessen geglaubte Landschaften ins Gedächtnis zurück. [...] Kant, der große Königsberger, hat es auf den Punkt gebracht, als er in seinem Werk "Vom ewigen Frieden" ein Weltbürgerrecht forderte, wonach "ursprünglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der andere"."


Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos
Siedler Verlag, München 2005, 24,90 Euro
Andreas Kossert: Ostpreußen (Coverausschnitt)
Andreas Kossert: Ostpreußen (Coverausschnitt)© Siedler Verlag