Versöhnung ist möglich!

Rezensiert von Thomas Kroll |
Das Erbe der Vergangenheit lastet auf Südafrika nach wie vor schwer. In ihrem Buch erzählt die schwarze Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela von ihren Begegnungen mit Eugene de Kock, einem der obersten Killer der Geheimpolizei während der Apartheid. Behutsam lotet die Autorin die diversen Aspekte des Geschehens aus und nimmt die Leser mit in ihr spannungsreiches Innere, in die Grauzonen zwischen Schuld und Unschuld, Wunsch und Wirklichkeit.
Menschen werden schuldig. Ihnen wird vergeben. Kein Automatismus, aber alltägliche Realität - in Beruf und Freizeit, in Familie und Freundeskreis. Dieses Konzept stößt an Grenzen, wenn die Schuld zu groß ist, wenn die Opfer verstorben oder die Täter zur Versöhnung nicht bereit sind. Wie kann es dann weitergehen?

Konkreter: Stellen Sie sich vor, Sie werden Jahre lang im Gefängnis gefoltert. Nun sitzen Sie dem Mann gegenüber, der diese Verbrechen sowie zahlreiche andere Gräueltaten geplant, verordnet und teilweise eigenhändig durchgeführt hat. Wie reagieren? Sprachlos bleiben? Auf Rache sinnen? Vergeben? Mitleid empfinden mit dem Täter?

Rollen- und Perspektivenwechsel: Nach einer Anhörung vor Gericht treffen Sie sich mit zwei Frauen, deren Männer Sie ermordet haben. Was können Sie denen sagen? "Bitte entschuldigen Sie ..."? Wie reagieren, wenn diese Frauen die Umstände und alle Einzelheiten der Tötung aus Ihrem Munde hören möchten? Und: Welche Gefühle stellen sich ein, wenn Sie später lesen:

"Ich hoffe, dass er, wenn er unsere Tränen sieht, dass er dann weiß, es sind nicht nur die Tränen, die wir um unsere Männer weinen, sondern auch Trauer um ihn. ... Ich möchte seine Hand halten und ihm zeigen, dass es eine Zukunft gibt. Und dass er noch immer die Chance hat, sich zu ändern."

Man muss sich derlei extreme Situationen und Begebenheiten immer wieder vor Augen halten, um Bedeutung und Brisanz des Buches von Pumla Gobodo-Madikizela zu verstehen, besser: zu verspüren. Darin erzählt die schwarze Psychologin, Mitglied der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, kurz: TRC), von ihren Begegnungen mit Eugene de Kock, einem der obersten Killer der Geheimpolizei im Südafrika der Apartheid.

Zum Hintergrund: Vierzig Jahre lang währt das unmenschliche System der Apartheid. Vier Millionen Weiße beherrschen vierzig Millionen Schwarze. Angesichts von Demonstrationen und bewaffnetem Widerstand gilt es die Macht zu sichern. "Vorsorgliches Töten" ist an der Tagesordnung, für die Geheimpolizei gibt es "keine Regeln, nur den Auftrag zu gewinnen".

Mit de Kock - dessen Spitzname "Prime Evil" war Programm - verbringt Gobodo-Madikizela insgesamt 46 Interviewstunden im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Pretoria. Ihre Schilderungen und Reflexionen vermitteln, wie sehr die Autorin hin- und hergerissen wird zwischen dem Wunsch, einen Schuldigen zu finden, Verantwortung für all das Leid und die Verbrechen, die im Namen der Apartheid verübt wurden, zu übertragen und dem Impuls einem Menschen, der bereut, zu vergeben. Immer wieder schildert sie konkrete Schlüsselsituationen:

"Er hatte Tränen in den Augen. Mit unsicherer Stimme sagte er: 'Ich wünschte, ich könnte weit mehr tun, als nur zu sagen, wie Leid es mir tut. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, sie von den Toten auferstehen zu lassen. ...' Seine Hände zitterten, sein Mund zuckte. 'Aber leider ... Damit muss ich leben.'"

Spontan wendet sich die Psychologin ihrem Gegenüber zu, zeigt für einen kurzen Moment ihr Mitgefühl und berührt die zitternde Hand des Mörders. Eine menschliche Geste? Ein unverzeihlicher Tabubruch? Die kurze Begebenheit lässt Gobodo-Madikizela nicht los, schon gar nicht, als de Kock zu Beginn der nächsten Begegnung bemerkt: "Wissen Sie, Pumla, das war die Hand, mit der ich immer geschossen habe, die Sie da berührt haben."

Was schwingt in den Worten des Mörders alles mit, was kommt unterschwellig zum Ausdruck? Behutsam lotet die psychoanalytisch geschulte Autorin die diversen Aspekte des Geschehens aus und nimmt die Leser mit in ihr spannungsreiches Innere, in die Grauzonen zwischen Schuld und Unschuld, Wunsch und Wirklichkeit. Keine Ausflüchte, kein billiger Trost - eine emotionale, eine rationale Gratwanderung.

"Unsere Empathiefähigkeit ist ein großes Vermächtnis in dieser grausamen Welt, die wir als Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Glaubensrichtungen und politischer Überzeugungen für einander geschaffen haben."

Nüchterne Worte ohne Beschönigung. Vor dieser Folie wird die Ungeheuerlichkeit der Begegnungen von Gobodo-Madikizela und de Kock nochmals deutlich, bei denen Macht und Ohnmacht, Schmerz und Sehnsucht auf beiden Seiten zum Vorschein kommen. Deutlich wird auch: Erklären ist nicht gleichbedeutend mit Entschuldigen, und Verstehen ist nicht Vergeben. "Bis zu welchem Punkt bedeutet der Versuch zu verstehen auch, das Verhalten vom Mörder ‚weg zu erklären‘?" Es sind Fragen wie diese, die das Buch von Gobodo-Madikizela lesens- und bedenkenswert machen. Nelson Mandela notiert im Vorwort:

"Dies ist kein Buch der einfachen Antworten. Im Gegenteil: Es stellt tiefschürfende Fragen zu gesellschaftlicher und politischer Verantwortung. Zugleich entschleiert es die Anwesenheit von Menschlichkeit inmitten des Grauens. Es ist ein Buch über Chancen auf Heilung und Wiedergutmachung."

Für die Opfer geht es um Anerkennung ihrer Leiden, um das Heilen physischer und psychischer Wunden, um die Rekonstitution von Würde und um Gerechtigkeit. Für die Täter geht es, "wenn schon nicht (um) eine reale Freiheit, so doch zumindest (um) eine emotionale Freiheit." Erreicht werden kann all das nur auf dem äußerst mühsamen Weg der konstruktiven Begegnung, bei der die Vergangenheit ungeschönt zur Sprache kommt und nicht vorschnell "billige Gnade" erwiesen wird. Nur so, davon ist die Autorin überzeugt, kann die südafrikanische Gesellschaft "gesunden", kann Stabilität erarbeitet werden und das gesellschaftliche Miteinander auf Dauer gelingen.

Pumla Gobodo-Madikizelas Fragen und Überlegungen sind überall da von Belang, wo Täter und Opfer in demselben Land miteinander leben (müssen) - etwa im vereinten Deutschland. Mit Stichworten wie "Holocaust" und "Stasi" seien nur zwei der Aufgabenfelder genannt, deren Aufarbeitung hierzulande immer wieder, immer noch ansteht. Richard von Weizsäcker hatte in seiner Rede zum 8. Mai 1985 an die jüdische Weisheit erinnert: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Mit Gobodo-Madikizela mag man variieren: ... und das Geheimnis der Erlösung heißt Reue und Empathie.

Pumla Gobodo-Madikizela: Das Erbe der Apartheid - Trauma, Erinnerung, Versöhnung
Mit einem Vorwort von Nelson Mandela.
Übersetzt von Barbara Budrich
Verlag Barbara Budrich, Opladen 2006, 224 Seiten